Donnerstag, 19. April 2018

Elias Canetti und die Masse - Teil 4


Fortsetzung vom 12.04.2018


Im Jahre 1961 erschien Elias Canettis Buch „Masse und Macht“, eines der faszinierendsten und umstrittensten Bücher der Weltliteratur – bis heute.


Elias Canetti
Für Canetti wird jeder Mensch von der Angst vor dem eigenen Tod gequält. Allein in der Masse kann der Einzelne seine Todesfurcht für wenige Augenblicke vergessen. Und noch mehr: er triumphiert über seine Todesfurcht, wenn er andere überlebt.

Canettis Gedanken waren für viele Leser der damaligen Zeit schwer zu verdauen. Doch die Beziehung von Macht und Tod, wie Canetti sie beschreibt, ließe sich in gewissem Sinne auch auf die heutigen Verhältnisse übertragen. Zahlreiche Intellektuelle und Wissenschaftler wurden von Canetti beeinflusst. So veröffentlichte 2017 der japanische Medien- und Massentheoretiker Shinichi Furuya seine Dissertation mit dem Titel „Masse, Mensch und Medium“.

Darin schreibt Furuya über Canetti: „Sein Buch markiert die Umwandlung von der „Menschenmasse“ zum „Massenmenschen“, der die Massengesellschaft und Massenkultur ausmacht.“

Diese Massengesellschaft und Massenkultur ist ohne Massenmedien nicht denkbar, wie Furuya schreibt: „Wer die wirkliche Demonstration organisieren oder aufhetzen möchte, ist auf die elektronischen Medien angewiesen, und wer die Massendemonstration oder die Massenveranstaltung in der Live-Sendung von Medien sieht, möchte sich daran beteiligen. Deswegen ist es für die Macht unverzichtbar, das Bild von Massen zu kontrollieren, weil es die Anziehungskraft auf das Publikum ausübt.“

Die Medienmasse und die wirkliche Masse auf der Straße bedingen einander. Darüber hinaus erfüllen Medien für Canetti aber auch die Funktion realer Massen, ohne dass diese sich tatsächlich physisch bilden müssten. An einer Stelle in „Masse und Macht“ beschreibt er den Medienkonsumenten, speziell den Zeitungsleser, als Teil einer Hetzmasse. Früher waren Hetzmassen jene, die genussvoll einer Hinrichtung beiwohnten oder sich zusammenfanden, um ein Opfer in den Tod zu treiben. Auch der moderne Medienkonsument ist für Canetti Teil einer solchen Hetze. Mit dem einzigen Unterschied, dass er nicht körperlich beteiligt ist.

Massenmedien und Medienmasse

Das gilt heute, in Zeiten des Internets, und das galt auch zu Canettis Zeit in den 1960er Jahren: „Man hat es nur, wie alles, viel bequemer. Man ist für nichts verantwortlich, nicht fürs Urteil, nicht für den Augenzeugen, nicht für seinen Bericht und auch nicht für die Zeitung, die den Bericht gedruckt hat.“

So wird der Medienkonsument Teil einer modernen Hetzmasse, die aus der Ferne und anhand von schrecklichen Nachrichten über den Tod anderer triumphieren kann. Die Entfernung zu den Ereignissen lässt den Medienkonsumenten abstumpfen, der Tod anderer ist für ihn nur eine gewöhnliche Nachricht – Passivität und Immunität gegenüber dem Horror des Weltgeschehens.

Die Masse der Medienkonsumenten ist auch eine unsichtbare Masse. Sie muss nicht körperlich anwesend sein, um über den anderen zu triumphieren. Zu den unsichtbaren Massen zählte Canetti ursprünglich die Masse der Toten, der Ahnen oder Geister und Teufel, die die Menschen bedrohen und die durch die Religionen gezähmt werden müssen. der, die online Masse mit der unsichtbaren Masse zu einigen.

Keine politische Debatte mehr ohne Diskussionen in den sozialen Medien. Im Netz finden sich schnell und anonym Massen von Usern zusammen. Online-Hetze, Cyber-Mobbing oder Shitstorms treffen einzelne Opfer und treiben sie mitunter sogar in den Tod. Anonyme, quasi „unsichtbare“ User-Massen können heute für ganz reale Gefahren und Schäden sorgen - von der digitalen Hetz-Kampagne über den Hack staatlicher Einrichtungen bis zum Fluten vernetzter Systeme mit Datenmassen.

Für den japanischen Medientheoretiker Shinichi Furuya kommt im digitalen Zeitalter noch etwas Entscheidendes hinzu: „Inzwischen verwandelt sich die Menschenmasse in die unsichtbaren Datenmassen, die sowohl für das Marketing des Unternehmens als auch für die institutionelle beziehungsweise administrative Verwaltung von großer Bedeutung sind. Zugleich besteht der Massenmensch als Quelle aus den Massendaten, die je nach unterschiedlichen Zwecken in Datenbanken versammelt und verwendet werden können. Damit wird das Individuum als Ungeteiltes in Datenmengen geteilt, die nicht nur von der politischen, sondern von der kommerziellen Macht kontrolliert und überwacht werden können.“

Diese Entwicklung hatte Canetti beinahe prophetisch vorhergesagt. Im Epilog von „Masse und Macht“ schreibt er: „Wenn es einen Glauben gibt, dem die lebenskräftigen Völker der Erde eins ums andere verfallen, so ist es der Glaube an die Produktion, den modernen Furor der Vermehrung. In diesem Punkte gleicht er, wenn auch nur oberflächlich, den Universalreligionen, die auf jede Seele aus sind. Alle Menschen müssten eine Art von idealer Gleichheit erlangen, nämlich als zahlungskräftige und willige Käufer.“

„Der Mensch als reine Masse von Konsumenten - eine Dystopie, vor der Canetti mahnte. Dieser Mensch ist nur noch von Belang, insofern er all das Produzierte auch brav konsumiert. Seine Vermehrung dient nur dazu, die sich vermehrende Produktion zu fördern. Mit der Digitalisierung ist der Mensch im 21. Jahrhundert zudem selbst zur Datenmasse geworden - in einem Ausmaß, das Canetti wohl nie geahnt hätte. Was der Mensch an Datenmengen abwirft, wird von Konzernen und Politik ausgeschlachtet.

Cybermobbing

Vielleicht kann man über diese neuen, unsichtbaren Datenmassen ähnlich denken wie Canetti über die unsichtbaren Massen früherer Generationen: einst waren es Teufel, Geister oder tote Ahnen, die die Menschen bedrohten und von den Religionen gezähmt werden mussten. Heute bedrohen uns die unsichtbaren Datenmassen. Was sie für uns bedeuten und was sie aus uns machen sind zentrale gesellschaftliche Fragen.“

In „Masse und Macht“ hat Canetti gezeigt, wie gefährlich ungezähmte Massen werden können, und wie schnell Massen zu diktatorischen Zwecken missbraucht werden. Für Canetti waren Demokratie und Parlamentarismus brüchige Errungenschaften. Die Frage nach dem tyrannischen Machthaber hatte sich für ihn nicht erledigt.


„Masse und Macht“ ist wie ein Werkzeugkasten für unterschiedliche Gedanken und Ideen, eine geschlossene Theorie liefert das Buch nicht. Aber es enthält eine Warnung an die Menschheit: Die Beziehung der Menschen, der Politik zum Tod ist nach wie vor die gleiche geblieben. 


Zitate aus: Lukas Meyer-Blankenburg: Elias Canetti, „Masse und Macht“ neu entdeckt, SWR2 Wissen, Sendung vom 08.03.2018, Redaktion: Anja Brockert, Regie: Andrea Leclerque, Produktion, SWR 2018

Weitere Literatur: Elias Canetti, "Masse und Macht", Hanser Verlag, München 1994  -  Elias Canetti, "Das autobiographische Werk", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2001   -  Elias Canetti, "Das Hörwerk 1953-1991: sämtliche Lesungen eigener Texte, Gespräche, Vorträge", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2006  -  Shinichi Furuya, "Masse, Macht und Medium", Transcript Verlag, Bielefeld 2017



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