Donnerstag, 29. März 2018

Elias Canetti und die Masse - Teil 1


Im Jahre 1961 erschien Elias Canettis Buch „Masse und Macht“, eines der faszinierendsten und umstrittensten Bücher der Weltliteratur – bis heute.

Elias Canetti
Kurz nach seinem Erscheinen interviewt der berühmte Psychoanalytiker und Schriftsteller Alexander Mitscherlich Elias Canetti für den Bayerischen Rundfunk: „Wir haben mittlerweile die Masse nicht nur gesehen in einer Großstadt, wo sie plötzlich eine Art von Terror-Regime entwickelt, sondern wir haben sie in mehr welthistorischen Funktionen gesehen, in zahlreichen großen politischen Bewegungen der letzten Jahrzehnte. So wird uns heute wieder auferlegt, die Frage nach der Masse, nach ihrem Ursprung, nach ihrer Struktur und nach ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung neu zu stellen.“

Mitscherlich hat hörbar Schwierigkeiten mit dem Buch. Das fängt schon bei dem Begriff der Masse an: „Was ist nun eigentlich Masse und speziell: Wie versteht er Masse und welches sind die neuartigen Gedanken, die er mitbringt?“

Für Canetti ist dieser Begriff gar nicht so kompliziert: „Es liegt mir einmal daran, die Masse sozusagen von außen zu zeigen, so wie sie einem Menschen erscheint, der sie beobachtet, der vielleicht zufällig in sie hineingerät ohne an ihr beteiligt zu sein.

Ich will die verschiedenen Formen, die die Masse annehmen kann, darstellen; (...) Ich glaube, dass es immer massenähnliche Erscheinungen gegeben hat. Ich will die Masse auch von innen betrachten, zeigen, was sie im Menschen anrichtet, der sich unter ihrer Einwirkung befindet; ganz besonders aber wollte ich zeigen, wie sie mit Problemen der Macht zusammenhängt, die in unserer Zeit ja eine große Rolle gespielt haben.“

Seit der Französischen Revolution hat der Begriff „Masse“ Konjunktur. Man konnte hier gut erkennen, wozu aufbegehrende Massen in der Lage sind. „Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bildeten sich mit der zunehmenden Industrialisierung neue Massen. Arbeiter rüttelten an den bestehenden Verhältnissen, Aufstände und Revolutionen erschütterten Europa.
Mit dem Faschismus entstand eine neue Bewegung, die die Massen in bis dahin ungeahnter Weise mobilisierte und schließlich im Massenmord endete.“ 

Gustave Le Bon
Psychologie der Massen (1895)
Literarische Untersuchungen zur Masse sind um die Jahrhundertwende äußerst populär. Gustave Le Bon veröffentlicht 1895 seine Studie „Psychologie der Massen“. Sigmund Freud schreibt zwei Jahrzehnte später über „Massenpsychologie und Ich-Analyse“. Kurz darauf, 1929, publiziert der spanische Philosoph Ortega y Gasset „Der Aufstand der Massen“.

Für Canetti aber ist die Masse kein modernes Phänomen. „Sie ist eine anthropologische Konstante. Der Mensch sucht und braucht die Masse. Er ahmt darin die Tiere nach, die sich in Herden zusammentun, aber auch Elemente der Natur wie Feuer und Wasser. Dieser eher assoziative und essayistische Ansatz Canettis weicht von den wissenschaftlichen Untersuchungen seiner Vorgänger ab. Er macht das Buch besonders - und für manche Kritiker auch besonders problematisch.“

Das liegt nicht zuletzt daran, dass Canetti anthropologische, ethnologische, philosophische und psychologische Überlegungen miteinander verschränkt: „Dazu möchte ich sagen, dass ja das Erlebnis der Masse und der Macht in unserem Jahrhundert ein so dringliches war, eines, von dem jeder so unmittelbar betroffen war, dass man schon aus diesem Grund auf eine ganz andere Art an die Bewältigung eines solchen Problems herangehen muss, als es eigentlich nach den Prinzipien sauberer Einzel-Wissenschaft gegeben ist.“

Natürlich kennt Canetti die berühmten Massen-Theoretiker seiner Zeit. Aber in „Masse und Macht“ erwähnt er sie mit keinem Wort. Er will bei Null anfangen und herausfinden, warum Menschen zur Masse werden. Auslöser ist eine persönliche Erfahrung, die Canetti als junger Mann gemacht hatte: „Das war in Wien, in den 20er Jahren beim Justizpalastbrand, wo er mit demonstriert hat als Student und das alles erlebt hat. Da hat einfach eine protestierende Masse gegen ein Unrechtsurteil den Justizpalast angezündet. Und das ist dann sehr brutal niedergeschlagen worden. Also es gab von dem Wiener Polizeipräsidenten einen Schießbefehl, die haben hundert Leute erschossen, zum Teil auch in die Masse hinein, ganz ungezielt. Und Canetti hat das alles gesehen und war auf Seite dieser protestierenden Masse und hat sich da mit treiben lassen und mit demonstriert.“

In seiner Autobiografie „Die Fackel im Ohr“ beschreibt Canetti später diese Erfahrung mit folgenden Worten: „Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.“

Canetti ist offensichtlich fasziniert davon zu erleben, wie er in der Masse aufgeht. Aber er sieht auch, wie sich vor seiner Haustür immer öfter die bedrohlichen Massen der Nationalsozialisten versammeln.


(Fortsetzung folgt) 




Zitate aus: Lukas Meyer-Blankenburg: Elias Canetti, „Masse und Macht“ neu entdeckt, SWR2 Wissen, Sendung vom 08.03.2018, Redaktion: Anja Brockert, Regie: Andrea Leclerque, Produktion, SWR 2018


Weitere Literatur: Elias Canetti, "Masse und Macht", Hanser Verlag, München 1994  -  Elias Canetti, "Das autobiographische Werk", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2001   -  Elias Canetti, "Das Hörwerk 1953-1991: sämtliche Lesungen eigener Texte, Gespräche, Vorträge", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2006  -  Shinichi Furuya, "Masse, Macht und Medium", Transcript Verlag, Bielefeld 2017

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