Donnerstag, 24. August 2017

Josef Kraus und das Sündenregister deutscher Bildungspolitik (Teil 1)

Josef Kraus
Unter dem Titel „Durchgefallen!
 Warum Deutschland als Bildungs-nation gescheitert ist“ kritisiert der ehemalige Schulleiter und aktuelle Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, in der Reihe "Aula" des SWR in deutlichen Worten das Sündenregister der deutschen Bildungspolitik, einer „Politik wider jede Vernunft“.

Ausgangspunkt von Kraus´ Überlegungen ist zunächst die Frage, ob nicht der Begriff „Sünde“ und die damit verbundenen Assoziationen – „Religion, Theologie, Kirche, Glauben, Aberglauben, Gott, Teufel, letztem Gericht, Himmel, Hölle“ – im Kontext mit Bildung zu weit hergeholt sein mögen.

„Was hat Bildungspolitik mit Religion zu tun?“ Eine Menge, sagt Kraus, denn immer „häufiger drängt sich der Eindruck auf, dass Bildungspolitik mit all den von ihr verbreiteten Ängsten und Horrorszenarien im Gegenzug gerne zu Heilsversprechungen neigt. Ängste werden – wohl zur Vorbereitung der Heilversprechungen - geschürt und apokalyptische Bilder gemalt: von Bildungspolitikern, von Bildungsforschern, von Lobbyisten, von Stiftungen usw. Ihnen geht es um Bildungsverlierer und Bildungsarmut, die ach so krankmachende Schule, die ach so selektierende Schule, traumatisierte Schüler, frustrierte und frustrierende Lehrer.

Darauf und dagegen setzt man dann Heilsversprechungen: Gymnasium und Abitur für alle! Lebensraum Schule! Offene Schule! Lernen mit Spaß und ohne Anstrengung! Keine Kränkungen mehr durch Noten und Zeugnisse! Kein Stress mehr mit Hausaufgaben und Auswendiglernen! Ausschließlich selbstgesteuertes, intrinsisches, hirnbasiertes Lernen! Kein Frontalunterricht! Am Ende dann angeblich hochkompetente junge Leute, fit für das globale Haifischbecken! Vor allem aber ist gerechte Bildung angesagt!“

Die bildungspolitische Heilsversprechungen?
Das sind die Sünden!
Wie passen nun die Heilversprechen der „educational correctness“ und die Rede von Sündenregistern zusammen? Ganz einfach, behauptet Kraus, „denn so paradox es klingt: Die bildungspolitischen und pädagogischen Heils-versprechungen, das sind die Sünden!“

Als erste Todsünde nennt Kraus den Egalitarismus: „Das ist der Irrglaube, dass alle Menschen, Strukturen, Werte, Inhalte, ja sogar die Geschlechter, von denen es ja nicht nur zwei, sondern bis zu sechzig geben soll, gleich bzw. gleich gültig seien. Das ist auch die Ideologie, dass es keine verschiedenen Schulformen, keine verschiedenen Begabungen, keine verschiedenen Fächer sowie keine bestimmten Werte geben dürfe.“

Gegen dieses Postulat setzt Kraus dagegen, dass die Schule keine Institution zur Herstellung von Gleichheit sei, sondern zur Förderung von Verschiedenheit und Individualität. Natürlich sei das Spannungsverhältnis von Gleichheit und Freiheit nicht aufhebbar – deshalb gelte auch, was Goethe meinte: „Gesetzgeber oder Revolutionäre, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Scharlatane“.

Kraus erinnert in diesem Zusammenhang an das warnende Wort von Alexis de Toqueville (1835): „Freiheit erliege gern der Gleichheit, weil Freiheit mit Opfern erkauft werden müsse und weil Gleichheit ihre Genüsse von selbst darbiete.“

Die Frage müsse daher lauten: „Soll ein Bildungswesen am Prinzip Freiheit oder am Prinzip Gleichheit orientiert sein?“ Die Antwort für Kraus ist eindeutig: „Gewiss doch an der Freiheit! Auch wenn wir dazu neigen, jede Form von Ungleichheit zu skandalisieren, gilt: Die „conditio humana“ kennt keine Gleichheit. An der Unterschiedlichkeit und an der Vielfalt von Menschen ändern keine noch so moralisierende egalitäre Zivilreligion, kein Bildungssystem und auch kein noch so gestalteter Unterricht etwas.“

Der pädagogische Egalitarismus kranke nun einmal an einem unüberwindbaren Dilemma: „Egalitäre Schulpolitik erzielt vermeintliche Gleichheit allenfalls durch Absenkung des Anspruchsniveaus. Wer aber die Ansprüche senkt, der bindet gerade junge Menschen aus schwierigeren Milieus in ihren „restringierten Codes“ fest. Selbst ein hochindividualisierender Unterricht zementiert Unterschiede. Denn: Je besser der Unterricht ist, je erfolgreicher Schüler individuell gefördert werden, desto mehr spielt die genetische Anlage eine Rolle. Und die ist schlicht und einfach unterschiedlich!

Verschiedenheit ist keine Ungerechtigkeit!

Verschiedenheit ist keine Ungerechtigkeit. Vielmehr ist nichts so ungerecht wie die gleiche Behandlung Ungleicher. Das Prinzip Leistung und das Prinzip Auslese sind nun einmal die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Zudem ist Auslese eine notwendige Voraussetzung für individuelle Förderung von Kindern.

Die anti-thetische Formel „Fördern statt Auslese“ ist grundfalsch. Es muss heißen: Fördern durch Differenzierung! Gleichmacherei würde zudem jede Anstrengungsbereitschaft gefährden, sie würde auch Eigenverantwortung und Eigeninitiative bremsen. Gleichmacherei wäre auch nur gefühlte Gerechtigkeit.“

Die zweite von Kraus beschrieben Sünde ist die Sünde der Hybris: „Das ist der aus dem Marxismus („Der neue Mensch wird gemacht“) und dem Behaviorismus („Der neue Mensch ist konditionierbar!“) abgeleitete Wahn, jeder könne total gesteuert und zu allem „begabt“ werden. Ja mehr noch: Hier glaubt der Mensch, via Bildungssystem Schöpfer spielen zu dürfen.“

Kraus setzt dagegen die Überzeugung: „Es gibt Unterschiede in der Begabung von Menschen. Was den Faktor Begabung betrifft, so mag es heute politisch nicht korrekt sein, davon zu sprechen. In manchen Diskussionen ist aus Begabung eine „vermeintliche Begabung“ geworden. Wissenschaftlich haltbar ist eine solche Diktion nicht. Denn die Forschung hat eindeutig nachgewiesen, dass die Hälfte bis zwei Drittel des kognitiven Potentials durch Erbfaktoren bestimmt ist.“

Mitte der 1960er Jahre glaubten jedoch selbsternannte "Reformer" verkünden zu können, dass es Begabung als angeborene Fähigkeiten nicht gebe. „Alles Verhalten einschließlich aller geistigen Fähigkeiten sei soziogen, so hieß es; das Endogene, das Genetische könne, ja müsse vernachlässigt werden, weil der Glaube daran Ungerechtigkeiten fortschreibe ... Wer anderes im Sinn habe, sei zumindest ein Biologist.“

Die Behavioristen – vor allem John B. Watson und Burrhus F. Skinner – vertraten demgegenüber im Rahmen der Milieutheorie die These, derzufolge Intelligenz und Schulerfolg durch die Schichtzugehörigkeit eines Individuums und durch die "Primärerziehung" determiniert seien. Sie verkündeten, „nur die Umstände entschieden darüber, ob ein Mensch ein bewundertes Genie oder ein Verbrecher werde. Daraus leitete sich ein grenzenloser Optimismus ab, der das Neugeborene hinsichtlich Dispositionen als „tabula rasa", als „white paper" sehen wollte, auf dem Prägungen ohne Grenzen vorgenommen werden könnten.“

In der Folge gerieten Begriffe wie „Begabung“ und „Intelligenz“ und schließlich auch auch Intelligenztests und der Intelligenzquotient IQ in Misskredit, standen doch beide Instrumente bzw. Messgrößen im Verdacht, Schichtzugehörigkeit zu zementieren.

Begabungen gibt es ...
Dabei hätte man Kraus zufolgen schon sehr früh wissen können, dass die Wahrheit in der Mitte liegt: „Weder Anlage und genetische Disposition noch Umwelt und individuelle Soziogenese können für sich allein erhellend wirken, wenn es um Fragen der intellektuellen Entwicklung geht. Nur wenn Anlagefaktoren und Umweltfaktoren zusammen gesehen werden, gewinnt man ein realistisches Bild von menschlicher Entwicklung, denn Anlage und Umwelt wirken - heute sagt man: „synergetisch" - zusammen wie Boden und Klima: Der beste Boden bringt keine reiche Ernte, wenn das Klima miserabel ist, und das beste Klima lässt nicht üppig Früchte tragen, wenn der Boden es nicht hergibt.“

Menschen würden nun einmal unterschiedlich auf die Welt kommen. „Wer völlige Chancengleichheit will, müsste die Menschen entmündigen. Er dürfte beispielsweise ausschließlich die Schwächeren und Langsameren fördern. Die Stärkeren und Schnelleren müsste er den Eltern wegnehmen, sie aus der Schule verbannen, ihnen jede Möglichkeit nehmen, Zeitung zu lesen, Rundfunk zu hören, Fernsehen zu schauen, Museen zu besuchen, ins Internet zu gehen.“

Beim Start in die Bildungslaufbahn müssten nach Kraus daher selbstverständlich alle die gleichen Ausgangschancen haben, gleiche Zielchancen kann es aber nicht geben.

Schon 1972 habe der Begabungsforscher Christopher Jencks in seinem Buch „Inequality“ die Behauptung vertreten, Chancengleichheit durch Bildung sei eine Illusion, „denn selbst wenn Bildung am Ende gleichmäßig verteilt wäre, schlagen doch andere Unterschiede durch: familiäre Förderung, Begabung usw.. Die kompensatorische Erziehung kann die Handicaps der Unterprivilegierten nicht total kompensieren.

(Fortsetzung folgt)



Zitate aus: Josef Kraus: Durchgefallen!
 Warum Deutschland als Bildungsnation gescheitert ist, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag, 02. Juli 2017, 8.30 Uhr, Redaktion: Ralf Caspary, SWR 2017

Weitere Literatur von Josef Kraus: Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen, München 2017  -  Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung, Reinbek 2013  -  Ist die Bildung noch zu retten? - eine Streitschrift, München 2009  -  Der Pisa-Schwindel. Unsere Kinder sind besser als ihr Ruf. Wie Eltern und Schule Potentiale fördern können, Wien 2005  -  Spaßpädagogik. Sackgassen deutscher Schulpolitik, München 2., ergänzte Auflage, 1998.


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