Donnerstag, 15. Februar 2018

Harald Welzer und die Autonomie - Teil 4


Harald Welzer ist seit 2012 Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg. In einem Beitrag für den Südwestfunk erläutert Welzer Geschichte und Gegenwart der Kategorie "Autonomie".


Die vermeintliche Komforterhöhung durch Apps und Kontrollprogramme - alles wird immer "smarter" -, die unablässig Daten liefern, entmündigen diejenigen, die sie so bereitwillig nutzen. „Alles dieses schafft eine Infantilisierung der Lebenswelt, die verblüffend ist: Sind wir denn eigentlich erwachsen geworden, um uns wie von der Mami im Schlaf behüten und wie im Kinderwagen herumfahren zu lassen? Soll die künftige Persönlichkeit der vollversorgte, unterhaltene und ansonsten belanglose und jederzeit ersetzbare digitale Arbeitssklave sein, dessen Welt so abgedämpft ist, dass er nicht einmal sein eigenes Unglück mehr bemerkt?“

Freiwillige Infantilisierung der eigenen Lebenswelt

Der Verlust von Autonomie, der sich fast unbemerkt, aber ungeheuer dynamisch vollzieht, ist nach Welzer keine Privatangelegenheit, sondern trifft auch die Grundvoraussetzungen der Demokratie unmittelbar: „Als Sphäre, in der Menschen tun und lassen können, was sie wollen, ohne dass eine Öffentlichkeit davon auch nur Kenntnis gewinnen könnte, bildet Privatheit jenen Seinsbereich, indem sich Subjektivitäten bilden und entfalten, Persönlichkeiten entwickeln und Standpunkte einnehmen lassen, die es erst erlauben, als freier Bürger zugleich politisches Subjekt zu sein und Einfluss auf den öffentlichen Bereich, die res publica zu nehmen.“

Die Existenz einer Privatsphäre bilde in diesem Sinn die Voraussetzung für die Existenz einer demokratischen Öffentlichkeit, die politisch mitgestaltbar ist. So formuliert der Philosoph Raymond Guess: "Darüber hinaus ist eine Kategorie des Privaten das Intime, und viele Theoretiker sind zu der Überzeugung gelangt, dass es Formen der Selbstbejahung gibt, die für Menschen notwendig sind und die sie nur dann entwickeln können, wenn sie angemessene Beziehungen der Intimität zu anderen unterhalten; solche Beziehungen sind Grundelemente des guten Lebens für den Menschen."

Verlässliche private Beziehungen ...
Solche privaten und exklusiven Beziehungen sind darüber hinaus „die Voraussetzung, dass ab-weichendes Handeln möglich ist. Ohne die Intimität privater Beziehungen, ohne den unzugänglichen Raum der intimen Konspiration kann es nur schwer Widerstand oder verbotene Hilfe geben, wenn die gesellschaftliche Entwicklung in eine totalitäre Richtung abzudriften droht. Transparenz und Konformität sind nahezu unausweichlich miteinander verschwistert.“

So gesehen ist es völliger Unfug, „Sicherheit und Freiheit gegeneinander auszuspielen. Denn in den entwickelten Demokratien leben wir heute nicht nur in der freiesten, sondern auch in der sichersten Form von Gesellschaft, die die Geschichte kennt“ – auch wenn die Medien jeden Abend das Gegenteil eines sinkenden Gewaltniveaus suggerieren.

Dabei zeigt nicht nur die in Demokratien rasant gestiegene Lebenserwartung, dass Freiheit und Sicherheit keineswegs Gegensätze sind, sondern einander gegenseitig voraussetzen und stärken. „Schon allein deshalb sollte man allen Politikern und Vertretern von Sicherheitsorganen, die Freiheitsrechte zugunsten von angeblich größerer Sicherheit einzuschränken beabsichtigen, entschiedenen Widerstand entgegensetzen.“

Frühere Generationen dagegen mussten vielfältige existenzielle Bedrohungen aushalten und unter äußerst geringen individuellen Freiheitsspielräumen leben. „Die Etablierung von Rechtsstaaten mit demokratischen und freiheitlichen Verfassungen war (...) weder ein historischer Zufall noch eine historische Zwangsläufigkeit, sondern ein mühevoll und unter großen Opfern erkämpfter und immer fragiler Zustand.

Der Rechtsstaat - ein Garant gegen prekäre Lebensverhältnisse

Man muss sich diese Hintergründe vergegenwärtigen, um zu erkennen, dass das Maß an Autonomie, Freiheit und Sicherheit, das die Mitglieder moderner demokratischer Rechtsstaaten genießen, historisch nicht nur einzigartig, sondern auch geradezu unwahrscheinlich ist. Von den 200.000 Jahren Geschichte des homo sapiens sind es, die athenische Demokratie eingerechnet, insgesamt bloß 400 bis 500 Jahre, in denen Demokratien geherrscht haben, und auch das jeweils nur in einem kleinen Teil der Welt.“

„Vielleicht kann man sich daran die Kostbarkeit des zivilisatorischen Standards klar machen, den wir in der Gegenwart genießen, bei all den gravierenden Mängeln, die die heutigen Gesellschaften westlichen Zuschnitts immer noch haben. Und dieser Standard bedeutet eben die individuelle Erwartbarkeit von Ausbildung, sozialer Sicherheit, Rechtssicherheit, körperlicher Unversehrtheit und Unverletzlichkeit von Person und Eigentum – solche Güter stehen in Verfassungen, weil sie nicht selbstverständlich sind.“

Autonomie und Freiheit sind Welzer zufolge daher zivilisatorische Errungenschaften, „die niemals sicher sind. Was gegenwärtig durch die allgegenwärtigen Datensammlungen und Überwachungstechnologien geschieht, ist eine radikale Infragestellung unserer Autonomie und damit eine antidemokratische, ja, antizivilisatorische Entwicklung. Was man dafür angeboten bekommt, ist ein bisschen Bequemlichkeit, als hätte es gerade daran bislang in den reichen Gesellschaften gefehlt.“
 
Wer hat die Kontrolle über mich? 

Diese Dimension des Antizivilisatorischen der gegenwärtigen Entwicklung sei von den politischen Eliten noch gar nicht begriffen: „Was sich hier als Umformatierung unserer Sozialverhältnisse, als Verschwinden des Privaten herausbildet, führt zur vollständigen Schutzlosigkeit des Individuums. Mit seiner Autonomie verliert es die Kontrolle über sich selbst. Die haben dann andere.“


Zitate aus: Harald Welzer: Autonomie gefordert! Über ein schwieriges Konzept der Demokratie Von Harald Welzer, SWR2 Wissen/Aula, Sendung vom 01. Mai 2017

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