Donnerstag, 28. Januar 2016

Carlo Strenger und die zivilisierte Verachtung (Teil 4)

Zivilisierte Verachtung und die Religion


Wann ist eine religiöse Position
der zivilisierten Verachtung würdig? 

Die von Carlo Strenger vertretene Kultur der Zivilisierten Verachtung beruht gleichermaßen auf dem Prinzip der verantwortlichen Meinungsbildung und dem der Menschlichkeit. Insbesondere bei den Themen, bei denen Religion und säkularer und demokratischer Liberalismus aufeinandertreffen, kann das Prinzip der zivilisierten Verachtung helfen, die Streitpunkte zu identifizieren und präzise zu fassen - und damit auch feststellen zu können, wann eine religiöse Position der zivilisierten Verachtung würdig ist.

Dies ist immer dann der Fall, wenn sie den sogenannten „Ärztetest“ nicht besteht. Der Ärztetest besagt, dass Menschen in der Regel – wenn es um ihre eigene Gesundheit geht - keineswegs alle medizinischen Richtungen für gleichwertig halten, sondern lieber zum erprobten Chirurgen als zum Wunderheiler gehen. Ähnliches gelte für persönliche Finanzfragen, bei denen auch kaum jemand zum Relativismus neigt sei. Den Ärztetest einzufordern bedeutet letztlich, auch in gesellschaftlichen Debatten und Diskursen wissenschaftliche Mindeststandards verlangen: "Zivilisierte Verachtung ist dann angebracht, wenn Menschen sich diesen Anforderungen entziehen." 

Den Worten Jürgen Habermas zufolge leben wir in einem „postsäkularen Zeitalter“, was bedeutet, dass letztlich jede moderne Gesellschaft damit zurechtkommen muss, „dass Religionen fürs Erste ein wesentlicher Bestandteil des sozialen Lebens bleiben werden.“ 

Nun scheint Religion eines der Themen zu sein, an dem das Toleranzprinzip an seine Grenzen zu stoßen scheint: „Immer wieder stellt sich konkret die Frage, ob religiöse Praktiken toleriert werden können, die mit zentralen Grundwerten der Aufklärung (etwa der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz) nicht vereinbar sind.“

Das Toleranzprinzip behauptet nicht,
jede religiöse Aussage respektieren zu müssen!
Wichtig dabei ist, sich bewusst zu machen, dass das Toleranzprinzip der Aufklärung nie behauptet hat, „wir seien verpflichtet, Glaubenssätze von Religionen zu respektieren, die wir mit guten Argumenten für irrational, unmoralisch oder gar unmenschlich halten. Das Toleranzprinzip besagte allein, dass keine kirchliche, religiöse oder staatliche Instanz das Recht hat, Menschen einen Glauben aufzuzwingen, und dass jeder Mensch in der Lage sein soll, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu leben.“

Dabei argumentierten die Aufklärer stets mit der Tatsache, dass Dogmen oder Glaubenssätze sich nicht empirisch oder logisch begründen lassen und es daher unmoralisch wäre, Menschen zu etwas zu zwingen, wovon man sie rational nicht überzeugen kann. 

Die Konsequenz aus diesem Argument ist, dass keine religiöse Autorität sich über eine vernünftige Kritik stellen könnte und auch nicht dürfte: „Die Vorstellung unumstößlicher Autoritäten, die sich nicht mit Argumenten rechtfertigen müssen, ist mit der Aufklärung obsolet geworden.“

So mag beispielsweise die Geschichte von der Opferung Isaaks, die in den abrahamitischen Religion eine fundamentale Rolle für das Gottesbild hat, in der Zeit, in der sie entstand, noch akzeptabel gewesen sein, in unserer Zeit ist sie in ihrer Grundaussage gleichwohl „hochproblematisch.“ Strenger zufolge dürfe man also sehr wohl fordern, „dass gewisse Tatsachenbehauptungen dem Ärztetest unterzogen werden. Aussagen, die ihn nicht bestehen, sollten dann in bestimmten Kontexten keine Rolle spielen.“

Strenger ist sich gleichwohl darüber im Klaren, dass die Mehrheit der abrahamitischen Konfessionen und Strömungen die kompliziert Arbeit einer „Entmythologisierung“ jedoch noch vor sich haben, „weshalb viele der von ihnen vertretenen Positionen den Ärztetest nicht passieren würden. Als Beispiel sei nur das Prinzip der Gleichberechtigung von Männern und Frauen genannt. 

Die Opferung Isaaks (Marc Chagall)
Man kann nun natürlich fragen, warum Religionen einen solchen Test überhaupt als legitim akzeptieren sollten? Die Antwort ist einfach: weil der überwiegende Teil ihrer Anhänger den Ärztetest auf mehr oder weniger alle Lebensbereiche anwendet – außer auf den eigenen Glauben.“ Der Widerspruch liegt einfach darin, dass diese Religionen gleichzeitig Tatsachenbehauptungen vertreten, die großen Einfluss auf das Wohlergehen einer Vielzahl von Menschen haben, dem Ärztetest aber nicht standhalten. 

Strenger hält den Ärztetest im Hinblick auf religiöse Positionen deshalb für sinnvoll, „da wir mit ihm über ein leicht zu handhabendes Instrument verfügen, um Religionen denselben Standards in puncto Verantwortlichkeit und Rationalität zu unterwerfen, die wir auch an andere öffentliche Institutionen richten.“

Das Grundrecht der Religionsfreiheit, das für die Aufklärer so wichtig war und „ohne das wir ins Zeitalter der Inquisition und der Religionskriege zurückfallen würden“, wird dadurch nicht angetastet. Dies bedeutet jedoch gerade nicht, „dass Religionen über alle Kritik erhaben sind: In dem Moment, in dem sie Tatsachenbehauptungen aufstellen, die Menschenleben und die menschliche Würde betreffen, müssen sie den Anforderungen entsprechen, welche auch die meisten religiösen Menschen an die Vertreter jenes Berufsstandes richten, dem sie ihre Gesundheit anvertrauen. Und damit sind wir wieder beim Ärztetest.“

Diese Forderung ist, darüber ist sich Strenger bewusst, nicht immer leicht zu ertragen. Aber eine Kultur der zivilisierten Verachtung verlangt „von uns allen, Kränkungen auszuhalten, die mit Kritik an unserer eigenen Weltanschauung fast notwendigerweise verbunden sind (…)

Wir müssen Kränkungen unserer eigenen
Weltanschauung aushalten können!
Wirkliche Freiheit zur Kritik, ob diese nun wissenschaftlich, poetisch oder satirisch vorgetragen wird, kann es nur dann geben, wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft fähig sind, zivilisierte Verachtung für ihre Positionen auszuhalten und in einer bestimmten Hinsicht zu akzeptieren.“

Natürlich ist es schwierig, nicht gekränkt zu sein, „wenn Säulen der eigenen Kultur attackiert oder zum Gegenstand von Satire werden“ und es ist sicherlich kein Wunder, wenn die Reaktionen der Gekränkten oft heftig ausfallen.

Aber es ist unvermeidlich, insbesondere im Zeitalter der Globalisierung, weltweit die Fähigkeit, Kränkungen zu ertragen, einzufordern: „Wenn wir uns einem radikalen Islam beugen, der Karikaturen aus Dänemark und Romane aus Großbritannien von Teheran oder Karatschi aus zum Casus Belli erklärt und damit Gewaltexzesse in Kopenhagen, Oslo oder Paris rechtfertigt, kann nirgends mehr frei gesprochen und geschrieben werden. Schon die Rushdie-Affäre hat uns gelehrt, dass zu viel Verständnis für religiöse Empfindlichkeiten die falsche Taktik ist. 

Wenn Kollektive, ob es sich dabei nun um Muslime handelt, die sich durch Karikaturen verletzt fühlen, um christliche Fundamentalisten, die gegen Abtreibungsärzte vorgehen, oder um ultraorthodoxe Juden, die Frauen hinauswerfen, die sich im Bus nicht nach hinten setzen wollen, zu dem Schluss gelangen, dass sie mit Gewalt ihre Ziele erreichen können, ist die liberale Grundordnung insgesamt bedroht.“

Gegen die notorische Behauptung, die Aufklärung sei letzten Endes fehlgeschlagen, müsse im Anschluss an Habermas immer betont werden, dass die Aufklärung per definitionem „ein unvollendetes Projekt“ ist. „Die Idee, die Aufklärung sei eine politische Heilslehre, die den Menschen die Erlösung bringen werde, ist eine Fehlinterpretation, die schon oft zu katastrophalen Konsequenzen führte. Die Aufklärung im eigentlichen Sinne ist ein nie endender Prozess, im Rahmen dessen die Menschheit sich immer wieder bewusst macht, dass es für kein Problem“ eine endgültige Lösung gibt.

Nicht erst seit Popper dürfte klar sein, dass menschliches Wissen ist immer vorläufiger Natur ist, „weshalb die Selbstkorrektur durch Kritik die einzige Möglichkeit darstellt, neu auftauchende Probleme anzugehen. Das Umfeld, in dem solche endlosen Lernprozesse am besten funktionieren, ist eine offene Gesellschaft.“ 

Offene Gesellschaft und Kritik, statt Totalitarismus und politische Korrektheit

Mit dem Ziel, ein Abrutschen in totalitäre Systeme zu verhindern, ist das Prinzip der zivilisierten Verachtung als ein Hilfsmittel der prinzipiell unvollendeten Aufklärung zu verstehen und muss in diesem Kontext gedacht werden. „Wirklich zivilisiert ist Verachtung aber nur dann, wenn sie auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und einer konsistenten Argumentation basiert, die jederzeit stringenter Kritik unterworfen werden kann und nicht als Vorwand gebraucht wird, um Andersdenkende zu erniedrigen und ihre Menschenrechte einzuschränken.“ 

Der Westen, so der große französische Historiker Fernand Braudel, kann durchaus als eigene Zivilisation bezeichnet werden kann, „in deren Zentrum der Begriff der Freiheit steht.“, Diese Erkenntnis mit Hilfe der politischen Korrektheit über Bord zu werfen, wäre grob fahrlässig. An die Stelle von Ideologien muss also wieder die individuelle Freiheit gesetzt werden, sowie das Recht, „sein Leben nach bestem Wissen und Gewissen selbst zu gestalten, Meinungen offen zu äußern und sich vor keiner Autorität fürchten zu müssen.“

Zitate aus: Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, Berlin 2015 (Suhrkamp)




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