Donnerstag, 21. Januar 2016

John Locke und die Erziehung

Es gehörte zu den tiefsten Überzeugungen von John Locke, dem großen englischen Aufklärer, dass jeder Mensch selbst denken kann – und wer es dennoch nicht vermag, kann dazu angeleitet werden.

Genau dies ist das Thema der Gedanken über Erziehung (Some Thoughts concerning Education, 1693), ein pädagogisches Programm, wie junge Menschen so geleitet werden können, dass sie schließlich, ihrer eigenen Führung anvertraut, als mündiger Bürger ihre geistige und politische Freiheit sinnvoll zu gebrauchen wissen.

Lockes Werk ist mit Sicherheit keine vollständige und systematische Abhandlung über die Erziehung und es bietet auch keine systematische Philosophie der Erziehung. Aber Lockes Gedanken regen zum verantwortungsvollen Selbstdenken an, und sie „möchten denen ein klein wenig Licht geben, die in der Sorge um ihre lieben Kleinen so ungewöhnlich kühn sind, daß sie es wagen, bei der Erziehung ihrer Kinder lieber ihre eigene Vernunft zu befragen, als sich ganz auf Altüberkommenes zu verlassen.“

Weil Locke erkenntnistheoretisch davon ausging, dass der menschliche Verstand bei der Geburt wie ein unbeschriebenes Blatt ist, war er überzeugt davon, dass man schon sehr früh ansetzen musste, um Fehler in der Erziehung zu vermeiden und die jungen Menschen für das praktische Leben zu bilden.

Locke ist davon überzeugt, dass neun von zehn Menschen durch die Erziehung zu dem werden, was sie sind, gut oder böse, nützlich oder unnütz, vernünftig oder verwirrt. Erziehung ist es, „welche die großen Unterschiede unter den Menschen schafft. Die kleinen oder nahezu unmerklichen Eindrücke auf unsere zarte Kindheit haben sehr bedeutende und dauernde Folgen.“

Im Zentrum von Lockes pädagogischen Gedanken finden wir die Figur eines körperlich gesunden und geistig regen Gentleman. Der Gentleman ist für Locke die Modellperson für ein glückliches Leben in einem liberalen Staat vernünftiger Menschen. An sie richtet sich Lockes Anspruch: „Die gute Erziehung der Kinder ist so sehr eine Sorgepflicht der Eltern, Wohlfahrt und Gedeihen der Nation hängen so sehr davon ab, dass ich sie jedermann ernstlich ans Herz legen möchte.“

John Locke (1632 - 1704)
Gleich im ersten Satz seiner Gedanken zitiert Locke den römischen Moralisten und Satiriker Juvenal: „Ein gesunder Geist in einem gesunden Leib, das ist eine kurze, aber vollständige Beschreibung eines glücklichen Zustandes in dieser Welt.“ Mens sana in corpore sano! - statt all der ausschweifenden Laster und verstockten Dummheiten, politischen Übel und moralischen Katastrophen, die das gesellige Leben vergiften!

Wem die Erziehung eines Gentleman am Herzen liegt, der hat neben der erforderlichen Vermittlung von Kenntnissen (learning) vor allem auf ausgewählte Qualitäten zu achten. Zunächst gilt es die erste und notwendigste Gabe des Menschen auszubilden: seine Tugend (virtue), die andere Menschen an ihm schätzen und lieben werden und die dazu beiträgt, dass er sich selbst achten kann und nichts vorwerfen muss.

An dieser Stelle wird auch Lockes eigene religiöse Überzeugung deutlich. Der kindliche Glaube an einen liebenden und gerechten Gott, der den Menschen alles Notwendige gibt, kann die Tugend stützen und ihre Entfaltung fördern, „während man die Kinder nicht durch schreckliche Geschichten von Geistern und Gespenstern, Totenköpfen und dem Sensenmann ängstigen soll.“ Vielleicht kann man Kinder durch solche Geschichten in seltenen Föllen von kleinen Vergehen abhalten, aber das Heilmittel des Schreckens ist doch weit schlimmer als die Krankheit. „Wenn das zarte Kindergemüt einmal solche Schreckvorstellungen aufgenommen hat und von dem starken Eindruck der Furcht, die solche Vorstellungen begleitet, angegriffen worden ist, dann sinken diese tief ein und setzen sich so fest, daß sie, wenn überhaupt, nur schwer wieder getilgt werden können; und solange sie vorhanden sind, suchen sie die Kinder häufig mit seltsamen Hirngespinsten heim und machen sie zu Feiglingen, wenn sie allein sind, und jagen ihnen für ihr ganzes späteres Leben Angst vor ihrem Schatten und der Dunkelheit ein.“

Lebensklugheit und Lektüre
Nach der Tugend ist es die Lebensklugheit (wisdom), die es beim heranwachsenden Gentleman zu formen gilt. Er soll lernen, seine Geschäfte in dieser Welt geschickt und mit Umsicht zu führen. Das mag den Horizont von Kindern zunächst übersteigen. Doch man kann ihnen schon früh beibringen, nicht listig zu sein, sondern wahrhaftig und aufrichtig. Denn zur Lebensweisheit gehören für Locke vor allem Offenheit und Fairness, die gesellschaftlich von einem wesentlich höheren und dauerhafteren Nutzen sind als die List (cunning), dieser „Affe der Weisheit“, der von ihr äußerst weit entfernt ist.

Die dritte Eigenschaft, die zu einem Gentleman gehört, ist eine gute Lebensart (good breeding), deren Hauptregel lautet „nicht zu gering von sich selbst und nicht zu gering von anderen denken“. Es handelt sich dabei um eine gesellige Tugend der Achtung und gegenseitigen Wertschätzung; um „eine Geisteshaltung, die sich im Benehmen zeigt und durch die man vermeidet, daß der andere sich im geselligen Umgang unbehaglich fühlt“.“

Vermeiden sollte man deshalb die ungeschliffene Rohheit eines Grobians ebenso wie die Missachtung und Geringschätzung des anderen, ein ständiges Widersprechen aus bloßer Lust am Widerspruch, rechthaberisches Behaupten, schulmeisterliches Auftreten und unversöhnliche Streitlust.

Lockes Erziehung ist auf eine gesellige Kultur gegenseitiger Achtung gerichtet. Doch diese Kultur ist für ihn nicht denkbar ohne eine tiefere Begründung. Sie basiert auf dem „richtigen Gebrauch des Verstandes“, ohne den sie nur eine gewohnheitsmäßig eingeübte Lebensform wäre.

Anleitung zur Vernünftigkeit im Gespräch
Locke ist grundsätzlich davon überzeugt, dass der Mensch zur Vernünftigkeit angeleitet werden muss. Das erklärt die große Rolle, die er dem Gespräch (reasoning) zwischen Erzieher und Zögling zuschreibt, in dem das Kind lernt, seine Verstandeskräfte auszubilden. „Man wird sich vielleicht darüber wundern, daß ich von vernünftigem Gespräch mit Kindern rede; und doch kann ich nicht umhin, dies als die rechte Art des Umgangs mit ihnen anzusehen. Sie verstehen es so früh, wie sie die Sprache verstehen; und wenn ich recht sehe, wollen sie gern als vernunftbegabte Wesen behandelt werden, und zwar früher, als man denkt. Es ist dies ein Stolz, den man in ihnen nähren und, soweit es geht, zum wichtigsten Werkzeug ihrer Bildung machen sollte.“

Ein vernünftiges Gespräch ist keine Indoktrination. Das Kind soll nicht nachplappern, was ihm vorgesagt wird. Lockes sprachlich vermittelte Erziehung des Verstandes ist Anleitung zum eigenen Verstandesgebrauch. Er will den jungen Gentleman nicht abrichten, ihm blind zu folgen, sondern dazu bringen, als ein vernünftiger Mensch nur dem zuzustimmen, was er selbst für vernünftig hält.

Lockes Gedanken haben einen konkreten biographischen Hintergrund. Er war der Erzieher von Anthony Ashley Cooper, dem 3. Earl of Shaftesbury. Der kleine Ashley hat am eigenen Leib erfahren können, was es bedeutet, einen gesunden Körper auszubilden. So achtete Locke sehr sorgfältig auf Maßnahmen, die er für vernünftig und leicht zu befolgen hält: Das Kind soll nicht zu warm angezogen sein, jeden Tag seine Füße mit kaltem Wasser waschen, ausreichend schlafen, weite Kinderkleider tragen, die es nicht einengen, sich viel in frischer Luft aufhalten und körperlich bewegen, eine naturgemäße einfache Nahrung mit wenig Fleisch zu sich nehmen und auf alkoholische Getränke, auch unnötige Medikamente, möglichst verzichten.

Aber Locke achtet auch darauf, den Geist (mind) „in die richtige Verfassung zu bringen, so daß er bei allen Anlässen geneigt ist, nur dem zuzustimmen, was der Würde und dem hohen Rang eines vernunftbegabten Wesens angemessen ist.“

Anthony Ashley Cooper
Third Earl of Shaftesbury
(
1671 - 1713)
So kann Locke direkt beobachten und verwirklichen, was er zur gleichen Zeit in seinen erkentnistheoretischen Skizzen festhält: „Was ich über den menschlichen Verstand denke“, dass er nämlich anfänglich wie eine „leere Tafel“ sei, die nach und nach beschrieben werde, scheint sich unmittelbar vor seinen Augen biographisch zu bestätigen.

Ashles bleibt seinem Lehrer ein Leben lang verbunden. Selbst während Lockes langjährigem Exil in Holland (1683 bis Anfang 1689) bricht der Kontakt nicht völlig ab. Auf seiner großen Reise über Frankreich bis nach Italien nutzt der junge Gentleman die Gelegenheit, Locke in Amsterdam zu besuchen, und kaum hat er ihn verlassen, schreibt er ihm am 22. Dezember 1687 aus Paris: „Um Ihnen für all die Ratschläge zu danken, die ich durch Ihre Briefe ebenso wie mündlich von Ihnen erhalten habe, reicht nicht nur das Papier nicht aus. Ich werde es niemals versuchen oder gar beanspruchen, so davon zu sprechen, wie sie es verdienen.“

Zitate aus: John Locke: Gedanken über Erziehung. Stuttgart 2007 (Reclam), online bei Gutenberg    -   Weitere Literatur: Manfred Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt, Hamburg 2012 (Rowohlt) 


1 Kommentar:

  1. Ja, WAHRnehmen und WAHR handeln und sich treu bleiben entsprechend seinen Erkenntnissen.
    Und man geht schon mit dem guten Bild dessen, was man erleben möchte ins Leben hinein.

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