Donnerstag, 25. Juni 2015

Rüdiger Safranski und das Individuum in einer globalisierten Welt - Teil 1

In seinem kleinen Buch „Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?“ versucht Rüdiger Safranski, Freiräume für ein Gleichgewicht und für Handlungsfähigkeit zu beschreiben, die es dem Individuum möglich machen, in einer globalisierten Welt gut zu leben. Er geht dabei von der Prämisse aus, daß sich Globalisierung nur gestalten lässt, wenn darüber nicht die andere große Aufgabe versäumt wird: das Individuum, sich selbst zu gestalten.

Der Individualismus ist mit Sicherheit einer der wichtigsten Errungenschaften der politischen und philosophischen Kultur Europas. Er basiert auf dem Gedanken, daß die Verschiedenheit der Menschen „nicht nur ein Faktum darstellt, sondern ein bewahrenswertes Gut, einen Reichtum.“ Aus dieser normativen Entscheidung, demzufolge plurales Sein zum Sollen und zum schützenswerten Gut erhoben wird, wurden die anderen normativen Ideen entwickelt, welche die aufgeklärte europäische Moderne ausmachen: Meinungs- und Gewissensfreiheit, Toleranz, Gerechtigkeit und körperliche Unversehrtheit.

So verbindet sich der Individualismus mit der Idee, daß der Staat und das gesellschaftliche Leben so organisiert werden müssen, daß Menschen ihre Individualität voll entfalten können, ohne sich wechselseitig dabei zu behindern, denn: „Der Sinn des Ganzen ist die Ermöglichung von reicher Individualität. Reich ist das Individuum aber nur, wenn es den eigenen Reichtum entdeckt und entfaltet. Der Einzelne - jeder Einzelne - ist das Sinnzentrum des Ganzen.

Das Faktum der Verschiedenheit des Menschen ist ein bewahrenswertes Gut

Ein solcher Individualismus hat die Freiheit als Voraussetzung. „Freiheit ist schöpferisch, und der Individualismus will die Bedingungen dafür bewahren. Er legt die schöpferische Selbstgestaltungsfreiheit nicht normativ auf bestimmte Ergebnisse und Leistungen fest, sondern verteidigt auch - normativ - die Voraussetzungen dieser Freiheit.“ Und genau hier kommt Safranski zufolge eine elementare Voraussetzung für Individualität in den Blick: „Notwendig ist die Kraft zu einer Selbstbegrenzung, die gewissermaßen als Immunschutz gegen überwältigende Reize und entgrenzende Horizonte wirkt.“

Goethe schrieb in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“: `Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren; einfache, nahe, bestimmte Ziele vermag er einzusehen und er gewöhnt sich, die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur Hand sind; sobald er aber ins Weite kommt, weiß er weder, was er will, noch was er soll, und es ist ganz einerlei, ob er durch die Menge der Gegenstände zerstreut oder ob er durch die Höhe und Würde derselben außer sich gesetzt werde. Es ist immer sein Unglück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit nicht verbinden kann.“

Demnach gebe es eine Reichweite unserer Sinne und eine Reichweite des vom Einzelnen verantwortbaren Handelns, „einen Sinnenkreis und einen Handlungskreis.“

Das Problem ist, daß unsere Sinne vielleicht etwas zu offen sind und unser diesbezügliches Immunsystem nicht ausreicht. Daher gehöre es zur Arbeit an unserer zweiten Natur, ein kulturelles Filter- und Immunsystem zu entwickeln, das die Begegnung mit der Welt in der Lage ist, auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren. Aber: Mit der globalen Informationsgemeinschaft der Medien aber habe das Individuum diese Aufgabe auf sträfliche Weise vernachlässigt.

Denn die globale Informationsgemeinschaft bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die Menge der Reize und Informationen den möglichen Handlungskreis dramatisch überschreitet. „Der durch Medienprothesen künstlich erweiterte Sinnenkreis hat sich vollkommen vom Handlungskreis losgelöst. Man kann handelnd nicht mehr angemessen darauf reagieren, also die Erregung in Handlung umsetzen und abführen.“

Das Dilemma lässt sich Safranski zufolge so beschreiben, daß einerseits die individuellen Handlungsmöglichkeiten schwinden, andererseits die unerbittliche Logik des Medienmarktes mit seinen Informations- und Bilderströmen aber die Zufuhr von Erregungen steigert: „Das muß so sein, weil ja die Anbieter von Erregung um die knappe Ressource  `Aufmerksamkeit´ beim Publikum konkurrieren. Dieses aber, inzwischen an Sensationen gewöhnt und danach süchtig, verlangt nach einer höheren, jedenfalls neuen Dosis von Erregung. Statt Handlungsabfuhr: Erregungszufuhr.“

Informatuions- und Bliderströme ... permanente Erregungszufuhr!

Die Folge ist entweder, daß man sich gegen die permanenten Erregungszustände „durch Abbrühen unschädlich gemacht hat.“ Oder man wird, wie Goethe feststellte, `zerstreut.´ Oder aber die Reizüberflutung begünstigt latente Hysterie und Panikzustände.

Der Kern des Problems hängt mit dem homogenen Raum des Globalen zusammen. „Das Ferne belästigt uns mit trügerischer Nähe und das Zeitgleiche, vor dem wir durch Distanz geschützt waren, dringt in unsere Eigenzeit ein. Wenn früher etwas an entferntem Ort geschah, war es schon längst vorbei, wenn man anderswo davon Kunde erhielt. (…) Dadurch verloren die fernen Ereignisse niemals ihren Charakter der Ferne.

Nur: Richtig erfahren kann das Individuum nur etwas auf dem Wege der Annäherung. „Wer zu schnell irgendwo ist, ist nirgendwo.“ So setzen sich die Ureinwohner Australiens nach längerem Fußmarsch stets für einige Stunden vor ihrem Zielort nieder, damit die Seele Zeit hat nachzukommen.“

Lass uns eben mal die Welt retten! 
Ein weiteres Problem ist, daß jeder schnell in Situationen gerät, „die uns beunruhigend erfahren lassen, daß die Reichweite der Bekanntschaft mit dem Globalen und die Reichweite möglichen Handelns dramatisch auseinanderdriften.“ Die Zeiten, in denen das menschliche Handeln durch das Nichtwissen-Können geschützt war, sind vorbei. „Da bekanntlich alles mit allem zusammenhängt und man undeutlich davon weiß, findet der Einzelne sich unversehens in einem Netzwerk von neuen Imperativen und Appellen gefangen. Was tust du gegen das Ozonloch, gegen den weltweiten Terrorismus, gegen die Kinderarbeit in Ost-Timor, gegen die Unterdrückung der Oguschen?“

So etwas hält auf die Dauer kein Mensch aus ...

(Fortsetzung folgt)

Zitate aus: Rüdiger Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? Frankfurt a.M. 2004 (Fischer tb)


Donnerstag, 18. Juni 2015

Peter Bieri und die intellektuelle Redlichkeit

Die Würde ist das höchste Gut des Menschen. Peter Bieris Buch „Eine Art zu leben. Von der Vielfalt menschlicher Würde“ handelt von diesem zentralen Thema unseres Lebens. Mit einem einzigen Begriff ist die menschliche Würde nicht zu fassen. Die Würde hängt gleichermaßen von unserem Umgang mit anderen und mit uns selbst ab. Würde, so stellt Bieri heraus, ist keine abstrakte Eigenschaft, sondern eine bestimmte Art zu leben.

Ausgangspunkt Bieris ist die Beobachtung, dass unser Leben als denkende, erlebende und handelnde Wesen zerbrechlich und stets gefährdet ist – von außen wie von innen. Die Lebensform der Würde ist daher der Versuch, „diese Gefährdung in Schach zu halten. Es gilt, unser stets gefährdetes Leben selbstbewusst zu bestehen. Es kommt darauf an, sich von erlittenen Dingen nicht nur fortreißen zu lassen, sondern ihnen mit einer bestimmten Haltung zu begegnen, die lautet: Ich nehme die Herausforderung an. Die Lebensform der Würde ist deshalb nicht irgendeine Lebensform, sondern die existentielle Antwort auf die existentielle Erfahrung der Gefährdung“ (14f).

Eine Form der Würde ist Würde als Wahrhaftigkeit: „In dem Maße, in dem unsere Würde durch den Willen zur Wahrhaftigkeit bestimmt wird, hat sie mit einer Einstellung zu tun, die man intellektuelle Redlichkeit nennen kann“.

Intellektuell redliche Menschen handeln nach der Maxime, dass man nicht vorgeben soll, Dinge zu wissen, die man nicht weiß und vielleicht auch nicht wissen kann.

Natürlich dürfe man Annahmen und Überlegungen jederzeit aussprechen und zur Diskussion stellen, auch wenn sie auf wackeligem Boden stünden. Das verbietet nicht die intellektuelle Redlichkeit.

„Was sie verbietet, ist, dass man sie als Wissen ausgibt – als etwas, worauf man bauen kann. Das geschieht besonders oft und durchsichtig in Äußerungen von Politikern.“ Dabei ist doch offenkundig, dass niemand wirklich weiß, wie die Dinge liegen und was zu tun.

Je energischer die Bewegungen von Händen und Armen
am Rednerpult, desto größer die Einfalt.

Dennoch ist jeden Tag zu beobachten, dass Regierungschefs, Minister, Parteiensprecher und Oppositionsführer sich hinstellen und behaupten, als einzige die Übersicht zu haben. Dabei werden in Parteien und Ministerien „Formeln geschmiedet und Metaphern beschworen, die in ihrer Einfalt zum Lachen sind. Umso energischer sind die Bewegungen von Händen und Armen am Rednerpult.“

Würde man dagegen den Ton abschalten und nur die Körpersprache betrachten, würde man Menschen sehen, die ihr fehlendes Wissen durch eine Gestik der Selbstüberredung kaschieren. „Niemand, der solides Wissen vorträgt, hat solche Gestik nötig.“

Bieri stellt sich vor, dass es auch anders sein könnte und schreibt eine Politikerrede, die – leider – noch niemals in der Form gehalten wurde:

"Die Fakten sind Ihnen bekannt, und es ist unstrittig, dass wir handeln müssen. Doch es ist alles andere als offensichtlich, was zu tun ist. Es gibt so vieles, was wir nicht vorhersehen können. Was niemand vorhersehen kann.

Es sind in diesem Hause ganz unterschiedliche Vorschläge gemacht worden. Es gibt viele ernsthafte Argumente, die einander widersprechen. Es wäre unredlich so zu tun, als wüssten wir, die Regierung, es einfach besser als die Opposition. Die Wahrheit ist: alle, die wir hier sitzen, müssen wir unter Bedingungen der Unsicherheit entscheiden. Wer den anderen zugehört hat und ehrlich ist, wird nachher seine Stimme mit Zweifeln abgeben. Denn er weiß: Es könnte sein, dass die anderen es richtiger sehen.

Ich trage unsere Politik vor, werbe für sie und hoffe auf eine Mehrheit, weil mich unter all den Argumenten, die ich gehört habe, die unseren am ehesten überzeugen. Doch Anmaßung, Selbstgerechtigkeit und billige Polemik liegen mir fern. Das ist etwas für Dummköpfe.

Ich kann nicht ausschließen, dass sich eines Tages als Fehler herausstellen wird, was wir vorhaben. Wir handeln nach bestem Wissen und Gewissen. Doch nicht ohne Zweifel, und mit Respekt vor dem, was uns entgegengehalten wird. Die Dinge, die eine menschliche Gemeinschaft betreffen, sind so komplex und unübersichtlich, dass es keine Gewissheiten geben kann.

Das müssen wir uns eingestehen, und diese Einsicht sollte uns im Umgang miteinander stets leiten. Das verlangt die Würde dieses Hohen Hauses.“

Leider dominiert in der politischen und öffentlichen Diskussion eher dummes Geschwätz. „Dummes Geschwätz, das vorgibt, von Tatsachen zu handeln, in Wirklichkeit aber bloß heiße Luft ist, gibt es überall, es passiert jedem, und oft ist es völlig harmlos ... es folgt nicht viel aus dem Gesagten, und es ist bald vergessen.  Keine Würde ist in Gefahr. In Gefahr gerät sie, wenn die Situation zu ernst ist, um Gequatsche zu vertragen.“

Dummes Geschwätz = Bullshit

Da sagt jemand ganz ernsthaft im Radio: „Wenn Spanien den EM-Titel holt, könnte das die Krise des Landes beenden.“ - "Hauptsache es wird richtig polemisch!", sagt die Moderatorin … Es ist egal, vollständig egal, was stimmt oder nicht. Wichtig sind sound-bytes, Effekthascherei und Klamauck. Wichtig ist Bullshit.“

Zitate aus: Peter Bieri: Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. München 2013 (Hanser), hier: S. 235ff


Donnerstag, 11. Juni 2015

Baudelaire und die postkosmologische Verunsicherung



Ovid (43 v. Chr. - 17 n. Chr.)
Am Beginn seiner Metamor-phosen erzählt Ovid zunächst von der Entstehung der Welt. Durch das vernünftige Handeln des göttlichen Schöpfers entstehen nacheinander der Himmel und Erde, Land und Wasser und Pflanzen und Tieren. Das war die die erste aller Metamorphosen, die Metamorphose des Chaos in den Kosmos.

Aber es fehlte noch der Mensch: „Noch fehlte ein Wesen, edler als diese Tiere und eher als sie befähigt zu hohen Gedanken, auf dass es die Herrschaft über alles Übrige ausüben könnte – da trat der Mensch in die Welt (…) Erde formte, vermischt mit Wasser vom Flusse, Prometheus, des Iapetos Sohn, nach dem Bild der alles regierenden Götter. Und während die anderen Wesen gebeugt zu Boden blicken, gab er dem Menschen ein hoch erhobenes Antlitz, ließ ihn den Himmel betrachten und sein Gesicht stolz zu den Sternen erheben“ (Ovid, Metamorphosen, 1. Buch, 76ff). Nun erst war die Welt komplett.

Im Zentrum der Erschaffung des Menschen steht, und daran lässt Ovid keinen Zweifel, das Faktum des aufrechten Ganges. Denn „während die anderen Wesen gebeugt zu Boden blicken“, gab der Weltenschöpfer „dem Menschen ein hoch erhobenes Antlitz, ließ ihn den Himmel betrachten und sein Gesicht stolz zu den Sternen erheben“. Ovid stellt also nicht nur fest, dass der Mensch als einziges unter den Tieren aufrecht geht und steht, sondern er macht zusätzlich deutlich, dass der Mensch überhaupt erst durch dieses Merkmal zum Menschen wird.


Der aufrechte Gang - das Merkmal, das den Menschen zum Menschen macht!

Der Anfang der Metamorphosen enthält ein dichtes Gedankengeflecht, das verschiedene Aussagen miteinander verbindet: Als der Mensch die Bühne betrat, ist der Prozess der gigantischen Transformation des Chaos in den Kosmos bereits abgeschlossen. „Der Mensch kommt in eine geordnete Welt, als deren Teil er geschaffen wurde.“ Behauptet wird weiter, dass der Mensch ein notwendiger Teil der Weltordnung ist, d.h. ohne den Menschen wäre die Weltordnung also unvollständig. Der Mensch ist – im Gegensatz zu den anderen Lebewesen - zum Denken befähigt. Diese Eigenschaft des Denkens macht ihn zu einem Wesen, das allen anderen Wesen überlegen ist: „Der Mensch ist nicht nur anders, er ist besser als die Tiere (…) Der Mensch nimmt eine ausgezeichnete Stellung in der Welt ein und ist daher der legitime Herrscher über sie.“

Der göttliche Ursprung des Menschen und der daraus resultierende Herrschaftsanspruch des Menschen finden ihren Ausdruck in seiner aufrechten Haltung: „Diese ist kein bloßes Faktum, kein naturhistorischer Zufall; sie wird ihm wie eine Auszeichnung ‹verliehen› und zugleich als eine Aufgabe übertragen. Sie ist das sichtbare Zeichen für die besondere Bestimmung des Menschen als Betrachter des Himmels und der Sterne. Geschaffen wurde der Mensch also nicht nur, weil die Ordnung der Welt ohne ein denkendes, sondern auch weil sie ohne ein den Himmel betrachtendes Wesen unvollständig geblieben wäre“ (Bayeritz, 16ff).


... den Himmel betrachten, dort wo die Götter wohnen!


Die ovidische Schöpfungserzählung und der darin enthaltene Hinweis auf den aufrechten Gang und den damit ermöglichten Blick zum Himmel gehört zu den wirkungsmächtigsten literarischen Traditionen der westlichen Welt.

Zwei Jahrtausende nach Ovid veröffentlichte Charles Baudelaire in seiner Gedichtsammlung „Blumen des Bösen“ das Gedicht „Der Schwan“. Dort berichtet der Erzähler von einem Rundgang durch Paris: „Das alte Paris ist nicht mehr / die Gestalt einer Stadt wechselt rascher, ach! als das Herz eines Sterblichen.“

An einem Platz erinnert sich der Erzähler an einen Schwan, den er an dieser Stelle einmal gesehen hatte:

Einen Schwan, der aus seinem Käfig entwichen war und, mit
dem Schwimmfuß das trockene Pflaster scharrend, über den
holprigen Boden sein mächtiges Gefieder schleifte. An einem
wasserlosen Rinnstein riß das Tier den Schnabel auf
Und badete mit fahriger Gebärde die Fittiche im Staub, und
sprach, im Herzen seines schönen Heimatsees gedenkend:
`Wasser, wann endlich wirst du niederregnen? wann wirst du
donnern, Wetterstrahl?´ Ich sehe, wie der Arme, ein
unheilvolles Zeichen wunderlicher Sage,
Zum Himmel manchmal, gleich dem Menschen bei Ovid, zum
schadenfrohen, grausam blauen Himmel auf zuckendem Halse
sein durstgequältes Haupt reckt, als schleudre er Vorwürfe gegen
Gott!

Das Gedicht stellt einen schroffen Gegensatz dar zum ovidischen Topos vom Menschen, der aufrecht geschaffen wurde, um in den Himmel schauen zu können. Klassisches Weltbild und moderne Welt stehen sich unversöhnlich gegenüber.

Charles Baudelaire (1821 - 1867)
Der klassische Kosmos ist zu einer modernen, sich schnell verändernden Großstadt verkommen. Die Welt ist ungastlich und schmutzig geworden. Der Schwan badet im Staub, statt im Wasser zu schwimmen: „Von seinem «schönen Heimatsee» hat ihn das Schicksal in die Gefangenschaft eines Käfigs verschlagen, aus dem er entwichen ist; doch nur um mit seinen zum Schwimmen bestimmten Füßen das trockene Pflaster zu scharren und das Gefieder in einem „wasserlosen Rinnstein“ zu baden.“

Der watschelnde Schwan ist eine Karikatur des Menschen, denn auch er wendet „in dieser jämmerlichen und verzweifelten Lage seinen Kopf zum Himmel; aber nicht, um ihn zu betrachten und zu bewundern, sondern um ihn hilflos anzuklagen.“

Die Blickrichtung ist zwar wie bei Ovid die gleiche, aber das Motiv hat sich völlig verändert. Aber auch der Protest bleibt eine leere Geste, denn „der Himmel hat längst aufgehört, der Herkunftsort und das Rückreiseziel des Menschen zu sein. Er ist nicht einmal mehr ein adäquater Adressat von Vorwürfen. Er nimmt den stummen Protest nicht wahr und bleibt `ironique et cruellement bleu´.“

Was wollte Baudelaire mit dieser eindrucksvollen Szene zum Ausdruck bringen? Sicher ist sie auch eine metaphorische Darstellung der Stellung des Menschen in der modernen Welt: „Der Blick nach oben, in der klassischen Welt das Privileg des Menschen, richtet sich nun auf eine große Leere. Der Himmel ist keine Quelle der Orientierung mehr; er offeriert keinen Sinn, sondern bleibt (im besten Fall) gleichgültig gegenüber dem Menschen, seinem Leben, seinem Schicksal.“


Zitate aus: Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, München 2012   -   Weitere Literatur: Ovid: Metamorphosen, in: Sammlung Tusculum, Artemis und Winkler 2004 (Düsseldorf)   -   Charles Baudelaire: Der Schwan, in: Die Blumen des Bösen, Frankfurt/M 1966 (Fischer), 146–149.

Donnerstag, 4. Juni 2015

Karl Popper und Immanuel Kant (Teil 2) - ... und das moralische Gesetz in mir!

Karl Raimund Popper
Zum hundertfünfzigsten Todestag hielt Karl Popper in der BBC einen Vortrag, in dem er Kant als letzten großen Vorkämpfer der Aufklärung verteidigt – gegen die romantische Schule des „Deutschen Idealismus“ von Fichte, Schelling und Hegel, die die Aufklärung vernichtete.

Im Hinblick auf unser Wissen stellt Popper im Anschluss an Kants Transzendental-philosophie fest, dass wir den Gedankenaufgeben müssen, „daß wir passive Zuschauer sind, die warten, bis die Natur ihnen ihre Gesetzmäßigkeiten aufdrängt. An die Stelle dessen müssen wir den Gedanken setzen, daß, indem wir unsere Sinnesempfindungen assimilieren, wir, die Zuschauer, ihnen die Ordnung und die Gesetze unseres Verstandes aufzwingen. Unser Kosmos trägt den Stempel unseres Geistes.“

An dieser Stelle schlägt Popper nun den Bogen von der Kopernikanischen Wende in der Erkenntnistheorie zur Ethik, denn für Popper steht fest, dass auch die „Grundidee der Kantischen Ethik ebenfalls auf einer Kopernikanischen Wendung beruht.“

Entscheidend ist, dass Kant auch in der Ethik den Menschen zum Gesetzgeber der Moral in genau derselben Weise macht, in der er ihn zum Gesetzgeber der Natur machte: „Kants Kopernikanische Wendung im Gebiete der Ethik ist in seiner Lehre von der Autonomie enthalten, worin er sagt, daß wir dem Gebote einer Autorität niemals blind gehorchen dürfen, ja daß wir uns nicht einmal einer übermenschlichen Autorität als einem moralischen Gesetzgeber blind unterwerfen sollen.“

Die Entscheidung liegt bei uns:
Wir können dem Befehl gehorchen oder
nicht gehorchen
Auch wenn wir dem Befehl einer Autorität gegenüberstehen, seien es doch immer nur wir, die auf unsere eigene Verantwortung hin entscheiden, ob dieser Befehl moralisch ist oder unmoralisch. Eine Autorität mag zwar die Macht besitzen, ihre Befehle durchzusetzen, „ohne daß wir ihr Widerstand leisten können.“ Nur: Solange es irgendwie physisch möglich ist, zwischen verschiedenen Handlungsweisen zu wählen, liegt die Verantwortung stets beim Handelnden. „Denn die Entscheidung liegt bei uns: Wir können dem Befehl gehorchen oder nicht gehorchen; wir können die Autorität anerkennen oder verwerfen.“

Kant wendet diese Idee mutig auf das Gebiet der Religion an, wenn er schreibt: „Es klingt zwar bedenklich, ist aber keineswegs verwerflich zu sagen, daß ein jeder Mensch sich einen Gott mache, ja nach moralischen Begriffen … sich einen solchen selbst machen müsse, um an ihm den, der ihn gemacht hat, zu verehren. Denn auf welcherlei Art ein Wesen auch als Gott … bekannt gemacht und beschrieben worden, ja ihm ein solches auch … selbst erscheinen möchte, so muß er … doch allererst … urteilen, ob er [durch sein Gewissen] befugt sei, es für eine Gottheit zu halten und zu verehren.“

Aber Kants Ethik darf nicht auf den Satz reduziert werden, das Gewissen des Menschen sei seine einzige Autorität. Er legt vielmehr fest, was unser Gewissen von uns fordern kann. Kant formuliert in seinen Werken verschiedenen Fassungen des moralischen Gesetzes. Die bekannteste ist sicherlich der Kategorische Imperativ: „Handle nur nach der Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Daneben, aber mit einer anderen Stoßrichtung entwirft Kant die sogenannte Menschheitsformel: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“

Für Popper kann man den „Geist der Kantischen Ethik“ am ehesten in den Worten zusammenfassen: „Wage es, frei zu sein, und achte und beschütze die Freiheit aller anderen.“

"Zum ewigen Frieden" (1795)
Kant errichtet folglich auf der Grundlage dieser Ethik seine Staatslehre und seine Lehre vom internationalen Völkerrecht. In seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) verlangte Kant einen Völkerbund, einen „Föderalismus freier Staaten“ mit der Aufgabe, den ewigen Frieden auf Erden zu verkünden und aufrechtzuerhalten.

Und so schließt sich der Kreis für Popper in dem „schönen und fast immer falsch verstandenen Wort …, dem Wort vom gestirnten Himmel über uns und dem moralischen Gesetz in uns.“ Wollte man, so Popper weiter, in die Vergangenheit zurückgehen, um einen noch umfassenderen Blick auf Kants Platz in der Geschichte zu erlangen, so würde man schließlich bei Sokrates ankommen:

„Beide wurden beschuldigt, die Staatsreligion verdorben und die Jugend geschädigt zu haben. Beide erklärten sich für unschuldig, und beide kämpften für Gedankenfreiheit. Freiheit bedeutete ihnen mehr als Abwesenheit eines Zwanges: Freiheit war für sie die einzig lebenswerte Form des menschlichen Lebens. Die Verteidigungsrede und der Tod des Sokrates haben die Idee des freien Menschen zu einer lebendigen Wirklichkeit gemacht. Sokrates war frei, weil sein Geist nicht unterjocht werden konnte; er war frei, weil er wußte, dass man ihm nichts anhaben konnte.“

Kants Grabstein:
Der bestirnte Himmel ...
das moralische Gesetz 
Diese Sokratische Idee des freien Menschen, die das Erbe des Abendlandes ist, hat Kant auf das Gebiet der Erkenntnis und der Ethik angewendet und ihnen so eine neue Bedeutung gegeben. Und er hat ihr weiter die Idee einer Gesellschaft freier Menschen hinzugefügt, einer Gesellschaft aller Menschen:

„Denn Kant hat gezeigt, daß jeder Mensch frei ist: nicht weil er frei geboren, sondern weil er mit einer Last geboren ist – mit der Last der Verantwortung für die Freiheit seiner Entscheidung.“

Zitate aus: Karl Popper: Immanuel Kant  - Der Philosoph der Aufklärung. Eine Gedächtnisrede zu seinem hundertfünfzigsten Todestag, gehalten in englischer Sprache im englischen Rundfunk (British Broadcasting Corporation) am 12. Februar 1954, in: Karl Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1999 (Piper Verlag)