Donnerstag, 31. Dezember 2015

Carlo Strenger und die zivilisierte Verachtung (Teil 2)

Die politische Korrektheit

Carlo Strenger (*1958)
Eine ständige Gefährdung für die Prinzipien der Aufklärung und der liberalen Demokratie geht von der Idee der politischen Korrektheit aus. Dies jedenfalls behauptet der schweizerisch-israelische Psycho-loge und Philosoph Carlo Strenger in seiner kleinen Kampfschrift „Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit.“

Die Grundgedanken der politischen Korrektheit beschreibt Strenger hier als die Idee der „Gleichberechtigung aller Kulturen, Glaubenssysteme und Lebensformen sowie das prinzipielle Verbot, andere Kulturen moralisch oder erkenntnistheoretisch zu kritisieren. (…) Kritik ist allenfalls an den eigenen Politikern erlaubt.“

Der Aufstieg der politischen Korrektheit fällt zusammen mit dem Ende der europäischen Selbstzufriedenheit im 20. Jahrhundert im Zuge zweier Weltkriege. Für viele westliche Intellektuelle gab es nach 1945 eigentlich keinen Grund mehr, der westlichen Kultur irgendeinen höheren Wert zuzuschreiben. An die Stelle der Ideale der Aufklärung und der liberalen Demokratie setzten viele nun den Marxismus-Leninismus, der auf diese Weise „zum – in Raymond Arons unsterblicher Formulierung – Opium der westlichen Intellektuellen“ wurde, die „nach dem moralischen Bankrott des Zweiten Weltkrieges krampfhaft nach einer Wahrheit suchten, an die sie glauben konnten.“ 

Arthur Koestler (1905 - 1983)
Auf diese Weise wurde Linke wurde „zur Moralpredigerin des Westens“ und behauptete ein ums andere Mal ein, dass der Westen angesichts der Abgründe des Faschismus der Welt kaum etwas zu bieten hätte. „Das marxistische Opium berauschte einen großen Teil der Links-intellektuellen so stark, dass sie hellsichtigen Denkern wie Arthur Koestler, der schon in den vierziger Jahren das Grauen des Stalinismus angesprochen, und Hannah Arendt, die früh grundlegende Gemeinsamkeiten von Faschismus und Kommunismus herausgearbeitet hatte, kein Gehör schenkten. Die Linke hatte nun einmal das Licht gesehen und sich darauf verlegt, die Korrumpiertheit des Westens aus einer marxistischen Perspektive schonungslos anzuklagen.“ 

Auch wenn es dann ab den den späten siebziger Jahren für viele moralisch integere Linksintellektuelle praktisch nicht mehr möglich war, Kommunisten zu bleiben, hatten viele von ihnen „den Habitus des schonungslosen Kritikers des Westens allerdings derart verinnerlicht, dass sie ihn nicht einfach zusammen mit dem Marxismus über Bord werfen konnten.“ Doch welche Alternative bot sich den Linksintellektuellen an, nachdem auch der Marxismus seine Glaubwürdigkeit und moralische Überlegenheit eingebüßt hatte? Gab es überhaupt noch eine Alternative zur liberalen, kapitalistischen Demokratie? 

Relativismus: Wenn alles richtig ist, ist alles falsch!
„In diesem Vakuum erschien vielen der postmoderne Relativismus als letzte vertretbare Position. Die Systeme hatten allesamt versagt. Das Einzige, was … in der Postmoderne blieb, war die Skepsis gegenüber sämtlichen großen Narrativen. Darunter fiel auch die Erzählung der Aufklärung, die da lautete, die Menschen des Westens seien seit drei Jahrhunderten dabei, sich und alle übrigen Erdenbewohner aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien, und hätten der Welt Fortschritt, Sicherheit und Wohlstand gebracht. All dies galt den Postmodernen nun lediglich als ein weiteres Beispiel für die bequemen Lügen, die man sich im Westen zurechtgebastelt hatte.“ 

Von daher empfanden es nun viele Intellektuelle als ihre „heilige Pflicht, die Aufklärungslüge und den Mythos der universalistischen Vernunft schonungslos zu entlarven“, eine Bewegung, die nicht auf Europa beschränkt blieb, sondern auch die USA erfasste. Das Problem bestand Strenger zufolge jedoch darin, dass diese an sich wertvollen Impulse „von einer vagen, dabei aber mächtigen Ideologie überschattet wurden, die etwas viel Einfacheres und Radikaleres predigte als die differenzierten Werke vieler Vertreterinnen und Vertreter der Postmoderne: 

Wahrheit, so lautete die Maxime, gibt es nicht. Es gibt nur Standpunkte und Perspektiven. Wann immer eine Theorie, Tatsachenbehauptung oder normative Aussage Objektivität für sich beanspruche, sei dies nichts als ein Versuch, die eigene Position im Machtgefüge zu festigen. Überhaupt sei es illegitim zu behaupten, bestimmte Wissensformen wie zum Beispiel die moderne Wissenschaft seien anderen Weltanschauungen überlegen. Alle Weltbilder hätten denselben Anspruch auf Geltung und dürften keinesfalls kritisiert werden – schon gar nicht vom Westen, der andere Völker und Rassen seit Jahrhunderten unterjocht und andere Kulturen systematisch zerstört habe. 

Von nun an gelte es, jedes Glaubens- und Wertsystem zu respektieren, und zwar schon allein deshalb, weil es ein integraler Bestandteil einer Kultur, eines Volkes oder einer Religion und als solcher konstitutiv für die Identität der entsprechenden Gruppe sei.“ 

Für die westlichen Gesellschaften hatten diese Ideen verheerende Folgen. Dies lässt sich gut aufzeigen an einer Reihe von „Ernstfällen, die den Westen vor die Frage stellten, wie und mit welchem Recht er sich, seine Werte und seine Lebensform verteidigen könne.“ Strenger bezieht sich auf die verschiedenen Terroranschläge gegen Symbole des Westens, beginnt mit den Anschlägen auf das World Trade Center (11.09.2001) bis hin zum Attentat auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo (07.01.2015). 

Das Theorem der politischen Korrektheit stellte sich angesichts dieser Ernstfälle zunehmend als ein systematisches Eigentor heraus, „und wir werden Zeugen, wie sie die Linke, aber auch politische Kräfte des Zentrums lähmt, wenn es darum geht, westliche Werte zu verteidigen.“ Die Ideologie der politischen Korrektheit hat also dazu geführt, dass weite Teile der europäischen und amerikanischen Linken diese Grundpfeiler der Aufklärung nicht länger selbstbewusst und voller Stolz verteidigen. „Stattdessen kasteit man sich wegen der Sünden, die der Westen in der Vergangenheit zweifelsohne begangen hat, permanent selbst.“ 

Dabei könne sich, so Strenger, die Ideologie der politischen Korrektheit noch nicht einmal auf das Toleranzprinzips der Aufklärung berufen, denn „dieses zielte darauf ab, das Individuum vor staatlichen oder kirchlichen Eingriffen in ihre Gewissens- oder Religionsfreiheit zu schützen; als Generalabsolution für alle religiösen, weltanschaulichen und kulturellen Praktiken war dieses Prinzip nie gedacht.“ 

Es geht dem Toleranz gerade nicht darum, jeden Glauben und jede Weltanschauung zu respektieren, sondern es will vielmehr das Recht eines jeden Individuums betonen, nach bestem Wissen und Gewissen zu leben und zu glauben. „Geschützt werden sollte also das Individuum, nicht der Glaube, der selbstverständlich als unverständlich, absurd oder gar lächerlich kritisiert werden konnte.“ 

Indem viele Linke dieses Toleranzprinzip verzerrt und zu einem Werterelativismus umgedeutet haben, haben sie sich letztlich selbst entmachtet, „denn: Wenn andere Kulturen nicht kritisiert werden dürfen, kann man die eigene nicht verteidigen.“ Der Glaube, die politische Korrektheit garantiere das harmonische Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen, ist dagegen eine Illusion. „Kein Mensch kann authentisch respektieren, was er in Wahrheit für unmoralisch, irrational oder ganz einfach dumm hält. Das unausweichliche Resultat ist mangelnde Authentizität.“ 

Wenn Glaube fanatisch wird ...
Auf der anderen Seite sind die selbsternannten geistigen Führer in anderen Teilen dieser Welt nicht einmal ansatzweise bereit, sich ihrerseits an die Spielregeln zu halten: „Muslimische Prediger und ultraorthodoxe Rabbiner haben überhaupt kein Problem damit, den säkularen Liberalismus als leere, unmoralische und sinnlose Lebensform zu diffamieren – zeigen sich aber gegenüber Kritik an ihren Dogmen und Lebensformen höchst empfindlich und finden nichts dabei, wenn ihre Anhänger darauf mit Gewalt reagieren. Wir stehen also vor der absurden Situation, dass der vorgeblich tolerante, faire und für kulturelle Unterschiede sensibilisierte Westen selbst zum Opfer jener Intoleranz geworden ist, die mit der Idee der politischen Korrektheit bekämpft werden sollte. Das nenne ich ein phänomenales Eigentor.“ 

Mit dem Prinzip der politischen Korrektheit wurde der zentrale Grundsatz einer offenen Gesellschaft „Nichts und niemand sollte gegen Kritik gefeit sein“ auf den Kopf gestellt: Bis auf die eigenen westlichen Institutionen durfte nun plötzlich gar nichts mehr „zum legitimen Objekt der Kritik werden, schon gar nicht, wenn es einer nichtwestlichen Kultur entstammte.“ 

„Die Vorstellung, Bachs h-Moll-Messe könne wertvoller sein als irgendein Popsong oder die Musik eines afrikanischen Stammes, fiel dem heiligen Zorn der politischen Korrektheit zum Opfer.“ Diese Eisntellung aber führt für Strenger zu einer intellektuellen Lähmung: „Wenn nichts begründet, aber auch nichts kritisiert werden konnte, war jede Meinung legitim.“ Damit wird aber zugleich auch die Forderung nach einer vernünftigen Begründung von Tatsachenbehauptungen mit dem Hinweis über Bord geworfen, niemand habe das Recht, einen anderen Glauben zu kritisieren, „und überhaupt seien solche Begründungsforderungen nur ein Ausdruck der liberalen Hegemonie jener spirituell verarmten Pseudoelite, welche die großen Universitäten an der Ostküste kontrolliere.“ 

Der Westen: Geist der Kritik,
Individuelle Autonomie,
Ablehnung von Autorität
Wenn aber der Westen seine Werte und seine Lebensweise argumentativ verteidigen will, besteht Strenger nach die einzige Möglichkeit in der Rückbesinnung auf die Prinzipien der Aufklärung. „Der Geist der Kritik, das Beharren auf individueller Autonomie, die Ablehnung jeder Autorität, die sich weigert, sich vertraglich zu binden oder diskursiv zu legitimieren, und das Recht auf den `aufrechten Gang´ sind Ideen, die zwar im Westen formuliert wurden, die aber nicht essenziell an bestimmte Ethnien, Hautfarben oder Religionen geknüpft sind.“ 

(Fortsetzung folgt)

Zitate aus: Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, Berlin 2015 (Suhrkamp)


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