Donnerstag, 24. Dezember 2015

Birger Priddat und die Direkte Demokratie

Ist die Demokratie als Gesellschaftsmodell unmöglich geworden? Diese Frage ist das Thema der kleinen Schrift „Die unmögliche Demokratie: Machtspiele ohne Regeln“ von Birger Priddat.

Demokratie ... unmöglich?

Ausgangspunkt von Priddats Überlegungen ist eine allgemeine Verunsicherung in der Politik, eine Verunsicherung, die Politiker und Bürger gleichermaßen ergriffen hat: „Inmitten der ausgerufenen Wissensgesellschaft haben wir in einem Kernbereich der Gesellschaft, in der Politik, ein massives Wissensproblem. Nichtwissen regiert. Die Bürger wollen allerdings vom Staat Lösungen, die ihre Zukunft sichern. Können wir aber noch einer Politik trauen, die nicht mehr versteht, was sie entscheidet, und sich somit vor den Bürgern gar nicht mehr verantworten kann?“

Dem Begriff der „Prolokratie“ von Christian Ortner, in der die verblödeten Bürger sich selbst in ihrem Staat überfordern, ohne zu wissen, wie man das finanziert, will Priddat zwar nicht folgen, wohl aber teilt er die Befürchtung, dass die Bürger „allein ihren Leidenschaften frönen und keine Balance zwischen und allgemeinem Interesse beachten.“ So war auch die Kritik der Konsumgesellschaft immer zugleich eine Kritik des vom Konsum geblendeten Individuums, das sich zur Entpolitisierung verführen ließ.

Mit der Ermüdung der Bürger, die die die Parteien beziehungsweise die Politiker nicht mehr für ausreichend führungs- und politikfähig halten, korrespondiert der Wunsch nach Formen direkterer Demokratie. Diese „erscheinen nicht nur staatsbürgerschaftlich als wünschenswert, sondern als Eintrag von Bürgerkompetenz in den Politikprozess und als Ausdruck höherer Gemeinschaftlichkeit.“

Aber in diesem Anspruch verbirgt sich eine Paradoxie: „Aus dem Vorwurf, die parlamentarisch-repräsentativ delegierten Politiker seien nicht in der Lage, eine Politik zu verfolgen, die die Bürger eigentlich wünschen, wird geschlossen, dass dann, wenn die Bürger die Politik machten, die Wünsche Wirklichkeit würden.“

Ausweg Direkte Demokratie?
Unter direkter Demokratie stellen sich viele einen Prozess vor, in dem die Bürger mehr oder weniger die politischen oder Gesetzesinitiativen extra beschließen oder wählen, etwa im Rahmen einer Volksabstimmung. Auf diese Weise würden die Politiker zu unmittelbaren Volksbeauftragten gemacht. Das Parlament als Instanz der Vermittlung verliert dabei an Bedeutung: „Es geht darum, möglichst viele Mitwirkende in einen Entscheidungsprozess einzubinden. Die große Zahl soll das Gewicht des Ergebnisses vergrößern. Masse mal Organisation gleich Legitimität.“

Diese Ausweitung von Demokratie wird nun zusätzlich als ein Prozess der Kontrolle beschrieben, die Politik nur das ausführen zu lassen, was die Bürger wünschen.“

Dabei wird Priddat zufolge gern übersehen, dass Wünsche aber sind einzelne Wünsche sind, „ohne Reflektion der Vernetzung vieler Wünsche zu einem Nexus von Politik, der aus seiner Komplexion heraus viele Wünsche wiederum korrigieren oder gar fallen lassen muss.“

So würde der Traum „von einer extrem ausgedehnten Mitbestimmung in allen Lebenslagen (Wirtschaft, Banken, Eigentum, Bildung, Politik)“ vermutlich in eine kulturelle Überforderung der Gesellschaft münden: „Wer mag das aushalten, wenn er selber ständig an allen Entscheidungen beteiligt ist? Ist man sich über den political stress im Klaren?“

Die delegativ-repräsentative Form der Demokratie dagegen entlastet die Bürger von der Demokratie: „Je mehr Bürger aber in je mehr Lebenslagen direkt demokratisch mitbestimmen, desto komplexer wird ihre Welt (die sie aktiv ja vordem noch gar so betrachtet hatten) und desto unklarer wird auch ihre Urteilskompetenz, weil sie plötzlich Dinge gegeneinander abwägen müssen, deren Verquickung sie kaum oder gar nicht kennen … Das Konfliktpotential erhöht sich – gegeneinander und in sich selber –, die Diskurse werden nicht klarer, sondern interessenüberfrachteter, so dass sich aus diesem Nexus die Führungsfrage in dem Grade neu stellt, den man abgeschafft sehen wollte.“

Überforderung durch Direkte Demokratie: political stress

Jetzt wird an sich selbst delegiert, was früher ins Parlament delegiert wurde. Oder es wird an – meist populistische - Führungen delegiert, die aber nicht führen, sondern nur moderieren dürfen. Dabei verkennen die Theoretiker direkter Demokratien gern, „dass ihre – zum Teil pathetisch vorgetragenen – egalitaristischen Lösungen selber wieder Eliten herausbilden.“

Demokratie braucht also ein Mindestmaß an Organisation: „Organisation meint hier: Verfahren, die in der Lage sind, die Mehrheiten/Minderheiten zu organisieren, die notwendig auch in direkten Demokratien auftreten, nunmehr aber unsortiert nicht-parteilich und nicht auf Regierung gepolt.“

Von entscheidender Bedeutung für eine funktionierende Demokratie ist für Priddat daher die Übernahme von Verantwortung. Für ihn ist Demokratie „ein Verfahren zur Einrichtung einer repräsentativen Macht, die kollektiv bindende Entscheidungen tätigt.“ Dies aber impliziert, „nur solche Entscheidungen zu fällen, die man verantworten kann. Verantworten heißt, auf die Frage, warum man das so und nicht anders entschieden habe, Gründe nennen zu können, die andere, wenn schon nicht billigen, dann doch respektieren können.“

Das Problem aber ist, dass „Demokratie … im Grunde verantwortungslos [ist]. Verantwortung kann nur übernommen werden, indem jemand sagt, dass er sie übernimmt. Sie gilt ad personam … Wer sie übernimmt, muss seine Entscheidungsposition freigeben, wenn er so versagt, dass andere sich nicht mehr an die Entscheidung gebunden fühlen.“

Wenn Verantwortung also konkret bedeutet, im Falle ihrer Übernahme auch zurückzutreten, dann ergibt sich daraus eine Paradoxie, denn Bürger „können nicht von der Demokratie zurücktreten (beziehungsweise von der Berechtigung, an ihr teilzunehmen). Folglich kann nur jemand, der zurücktreten kann, auch Verantwortung übernehmen, womit sich die verantwortliche oder Entscheidungsposition als elitäre ausweist, die auch – und gerade auch – in Demokratien Geltung hat.“

Zwei Seiten der Medaille: Übernahme von Verantwortung
und die Bereitschaft zum Rücktritt

Aus diesem Grunde kann – so Priddat – eine Demokratie nur repräsentativ gestaltet sein, nicht direktdemokratisch: „Denn nur dann, wenn Politiker als gewählte Repräsentanten Verantwortung in der Form übernehmen, dass sie für Fehler die Verantwortung übernehmen und zurücktreten oder abgewählt werden, können sie Verantwortung übernehmen. Jemand, der nicht zurücktreten oder abgewählt werden kann, kann nicht verantwortlich handeln, wenn wir Verantwortung institutionell definieren: dass jemand sich vor anderen rechtfertigen muss für sein Tun.“

Die Formen der direkten Demokratie aber, die die Verantwortung so teilen, dass niemand mehr sie übernimmt, sind dann eben „Strukturen ohne Governance“, die keinen Diskurs über die Geltung bzw. Nichtgeltung von Entscheidungen forcieren. Im verantwortungsvollen Diskurs dagegen gibt es Repräsentanten, „die aus Verantwortung eine Governance entfalten, die im nicht-verantwortungsvollen Diskurs nur kontingent und nicht-stringent erfolgt. Indem sie auf Interessen ausgerichtet sind, sind sie haftbar für deren Verfolgung.“



Zitate aus: Birger Priddat: Die unmögliche Demokratie: Machtspiele ohne Regeln, Frankfurt a.M. 2013 (Campus)

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