Donnerstag, 13. November 2014

Hannah Arendt und der Totalitarismus - Teil 4: Totale Herrschaft - Der Staatsapparat

„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.

Bei der Untersuchung des totalitären Staatsapparates geht Hannah Arendt von der Prämisse aus, dass die totalitäre Bewegung durch die Machtergreifung weder in ihrer Organisationsstruktur noch in ihrem ideologischen Gehalt verändert wird. Vielmehr besteht die Gefahr für die Bewegung gerade darin, „dass sie einerseits durch die Übernahme des Staatsapparats `erstarren´ und in einer absolutistischen Staatsform untergehen und dass sie andererseits durch die Grenzen des Territoriums, in welchem sie offiziell zur Macht gekommen war, in ihrer Bewegungsfreiheit begrenzt werden konnte“ (816).

Hitler nach der Machtergreifung
Die Paradoxie der totalen Herrschaft ist, dass die Machtergreifung für die totalitäre Bewegung mindestens ebenso viele Gefahren wie Vorteile besitzt. Daher sind totalitäre Bewegungen, sobald sie an die Macht gekommen sind, auf eine „permanente Revolution“ angewiesen: „Der totalitäre Machthaber muss mit allen Mitteln die Bedingungen des Zerfalls, unter denen die Bewegung zur Macht gekommen ist, aufrechterhalten und verhindern, dass das, was er dauernd versprochen hat, wirklich eintritt, nämlich eine Neuordnung aller Lebensverhältnisse und eine neue Normalität und Stabilität, die sich auf der Neuordnung gründet. Jede solche Neuordnung, gleichgültig wie `revolutionär´ sie erst einmal anmuten sollte, würde auf die Dauer ihren Platz in den ungeheuer verschiedenen und kontrastierenden politischen Lebensformen der Völker der Erde finden, sie würde zu einer unter vielen werden, und gerade dies muss um jeden Preis verhindert werden“ (819f).

Um zu verhindern, dass die Massen – in der Sprache der Bewegungen - in den alten Schlendrian zurückfallen, ist die Machtergreifung in einem Lande  daher primär vergleichbar mit der "Etablierung eines offiziellen und international anerkannten Hauptquartiers der Bewegung. (…) Hierfür wird der Staatsapparat benutzt, dessen die Bewegung so lange bedarf, als es noch ein Außen und eine nichttotalitäre Welt gibt; er würde in der Tat `absterben´, wenn das eigentliche Ziel der Welteroberung erreicht und das Außen verschwinden würde“ (821).

Hitler und der britische Premierminister Chamberlain
während der Münchner Konferenz im September 1938
Der Grund für die meisten Fehleinschätzungen des Totalitarismus liegt Arendt zufolge darin begründet, dass der gesunde Menschenverstand meint, es liege in der Natur aller Dinge, auch der politischen Angelegenheiten, "dass extreme Forderungen und Ziele sich objektiver Bedingungen bequemen müssen, und gerade diese objektiven Bedingungen müssen sich geltend machen in dem Besitz der wirklichen Macht“ (822).

Von dieser Fehleinschätzung führt ein direkter Weg zu den diplomatischen Abmachungen mit totalitären Regierungen, etwa dem Münchener Abkommen mit Hitler oder auch den Verträgen der Konferenz von Jalta mit Stalin: „Gegen alle berechtigten Erwartungen war es keineswegs möglich, die totalitären Länder durch Konzessionen und großes internationales Prestige wieder in den normalen Verkehr zurückzubinden, und alle Versuche, ihnen durch Taten zu beweisen, dass ihre ideologisch begründeten Behauptungen, sie seien von einer Welt von Feinden umgeben, nicht zutrafen, blieben vergeblich“ (823). Die diplomatischen "Siege" stellen sich als Pyrrhus-Siege heraus, denn die totalitären Regierungen reagierten auf Kompromisswilligkeit nur mit stetig verstärkter Feindseligkeit.

Viele dachten noch unmittelbar nach der Machtergreifung, dass die nationalsozialistische Revolution und der mit ihr verbundene Terror sein Ende finden würde, sobald neue Institutionen und Gesetze erlassen und die innere Opposition besiegt sein würde. Sie sollten enttäuscht werden: „Was statt dessen eintraf, war, dass der Terror mit Abnahme der Opposition im Lande nicht abnahm, sondern sich verstärkte, so das es aussah, als sei diese Opposition nicht (wie die liberalen Gegner der totalitären Regime immer glaubten) der Anlass der Gewaltherrschaft, sondern im Gegenteil das letzte Hindernis, das seiner vollen, unbarmherzigen Entfaltung im Wege gestanden hätte“ (823f)

Verkündigung der Nürnberger Gesetze (1935)

Betrachtet man die Entwicklung des Terrors in Nazideutschland, dann fällt vor allem auf, dass das Regime zwar damit begann, Deutschland mit einer „Lawine von neuen Gesetzen und Dekreten zu überschütten; aber als diese Entwicklung mit dem Erlass der Nürnberger Gesetze zum Stillstand gekommen war, stellt sich heraus, dass die Nazis selbst keineswegs gedachten, sich um ihre eigene Gesetzgebung zu kümmern, dass es vielmehr `nur ein Weiterschreiten auf dem eingeschlagenen Weg zu immer Neuem´ gab, so dass schließlich `Zweck und Arbeitsumfang der Geheimen Staatspolizei´ wie aller anderen von den Nazis geschaffenen Institutionen parteilicher oder staatlicher Natur in keiner Weise durch die gesetzlichen Bestimmungen erschöpft werden (konnten), die für sie erlassen worden sind´. Praktisch äußerte sich dieser Zustand der Gesetzlosigkeit in Permanenz darin, dass `eine Reihe von Vorschriften nicht mehr verkündet´ wurde“ (825).

Dieses Vorgehen entsprach Hitlers Überzeugung, dass „der totale Staat keinen Unterschied kennen darf zwischen Recht und Moral“, wobei Hitler natürlich unter `Moral´ die nationalsozialistische Weltanschauung verstand.

Arendt bemerkt, dass die Literatur über das Nazi- und das bolschewistische System voll sei von Klagen über ihre angeblich monolithische Staatsstruktur. Gleichwohl entspreche nichts weniger den Realitäten eines totalen Herrschaftsapparates. Vielmehr ließe sich eine "eigentümliche Strukturlosigkeit“ im totalitären Herrschaftsapparat beobachten: „Zu Beginn des Dritten Reiches ließen die Nazis es sich angelegen sein, alle Ämter von irgendeiner Bedeutung so zu verdoppeln, dass die gleiche Funktion einmal von einem Staatsbeamten und zweitens von einem Parteimitglied erfüllt wurde. Das fing schon damit an, dass die alte Einteilung Deutschlands in Provinzen und Bundesstaaten nicht einfach abgeschafft, sondern durch die Einteilung in Gaue überlagert wurde, wobei die Grenzen noch nicht einmal miteinander übereinstimmte“ (828).

Die Organisationsstruktur der NSDAP - 
"Macht beginnt immer dort, wo Öffentlichkeit aufhört."

So lebten die Einwohner des Dritten Reiches nicht nur unter den gleichzeitigen und zumeist miteinander konkurrierenden Instanzen von Partei und Staat, von SA und SS, von SS und Sicherheitsdienst, sondern sie wussten auch niemals im gegebenen Augenblick, welche dieser Instanzen gerade die Fassade und welche die wirkliche Macht repräsentierte. "Nur eine Art sechster Sinn, den allerdings die Bewohner totalitärer Länder äußerst schnell entwickeln, konnte ihm sagen, wessen Befehl er wirklich zu gehorchen hatte“ (833).

Es gilt als bewiesen, dass ein Gebäude eine Struktur haben muss, dagegen eine Bewegung, wenn man ihre Bedeutung so ernst nimmt, wie es die Nazis getan haben, nur eine Richtung haben kann „und dass jegliche gesetzliche oder staatliche Struktur für eine immer schneller in eine bestimmte Richtung sich bewegende Bewegung nur ein Hindernis ist“ (832). Schon vor der Machtergreifung repräsentieren die totalitären Bewegungen diejenigen Massen, welche nicht mehr bereit sind, in einem staatlichen Gebäude - gleich welcher Natur - zu leben, "Massen, die sich in Bewegung gesetzt haben, um die von den Staaten gesicherten Grenzen gesetzlicher und geographischer Natur zu überfluten“ (832).

Arendt nach bewegt sich die Bewegung rein technisch innerhalb des totalen Herrschaftsapparats dadurch, dass die Führung das eigentliche Machtzentrum dauernd verschiebt und in andere, meist Neugeschäften Organisationen verlegt. So vollzog sich die Verschiebung der Macht von der SA auf die SS im Anschluss an den Röhm-Putsch, und zwar dadurch, dass die SS mit der Erschießung der SA-Truppen betraut wurde.

Das Resultat war, „dass abgesehen von dem im Führer verkörperten Willen es niemals feststehen konnte, wo sich gerade das Machtzentrum des Herrschaftsapparats befand, und dass niemand sicher sein konnte, welche Position er in der wirklichen geheimen Machthierarchie einnahm“ (...) „Die einzige Regel, auf die sich jedermann in einem totalitär beherrschten Land verlassen kann, ist, dass ein Apparat desto weniger Macht hat, je öffentlicher und bekannter er ist (…) Macht beginnt immer dort, wo Öffentlichkeit aufhört“ (840).

Der totalen Herrschaft geht es nicht einfach um die Errichtung eines autoritären Staates, der bereit ist, Freiheit einzuengen oder zu begrenzen, aber sie niemals abzuschaffen. Ihr Ziel ist vielmehr die völlige Abschaffung der Freiheit und die Eliminierung der menschlichen Spontaneität überhaupt. Der totalen Herrschaft geht es auch nicht um Etablierung eines Cliquen- oder Gangsterregime. Das entscheidende Problem für die totale Herrschaft besteht darin, zu erreichen, „dass jedes Mitglied der Bewegung ein hundertprozentiger Bolschewist oder Nazi wird, ohne dadurch irgendwelche Solidaritätsgefühle mit anderen Nazis und Bolschewisten zu mobilisieren“ (847).

Abschaffung der individuellen Freiheit
und menschlichen Spontaneität
Die Mittel der totalen Herrschaft sind dabei ebenso einfach wie wirksam. Sie sichern nicht nur ein absolutes Machtmonopol, sondern eine sonst nirgends vorzufindende absolute Gewissheit, dass alle Befehle irgendwie immer ausgeführt werden: „Durch die Multiplikation der möglichen ausführenden Organe und das Fehlen jeder gesicherten Hierarchie bleibt der Diktator in absoluter Unabhängigkeit von jedem seiner Untergebenen und kann jederzeit die außerordentlich rapiden und überraschenden Wendungen seiner Politik vornehmen, für welche die totalitären Regime so berühmt geworden sind. (…) Die dauernden Säuberungen, das plötzliche Auf und Ab der Berufskarrieren verhindern jedes Sich-einarbeiten, jede Entwicklung zuverlässiger Berufserfahrungen“ (850).

Dieses System totaler Herrschaft führt selbstverständlich zu außerordentlichen Einbußen an Leistungsfähigkeit auf allen Gebieten. In Nazideutschland waren diese Folgen aber deutlich weniger sichtbar als im Bolschewismus, weil die zwölf Jahre, die das tausendjährige Reich dauerte, nicht genügten, um mit der großen deutschen Arbeits- und Leistungstradition fertig zu werden“ (851).

Niederlagen wie die vor Stalingrad (1943) beschleunigten die Entwicklung des totalen Staates und allmählich begann die totale Herrschaft sich wirklich aller Lebensgebiete zu bemächtigen und alle anderen Erwägungen in den Hintergrund zu schieben. So führte die Gefahr, den Krieg überhaupt zu verlieren, nur dazu, „alle Zweckmäßigkeitsüberlegungen über Bord zu werfen und alles daranzusetzen, durch totale Organisation die Ziele der totalitären Rasseideologie rücksichtslos, und sei es auf noch so kurze Zeit, zu verwirklichen“ (852).

Deutsche Soldaten auf dem Weg in die Gefangenschaft (Stalingrad 1943)

Betrachtet man die letzten Jahre der Naziherrschaft, aber auch die ersten Jahre der totalitären Diktatur Stalins, die im Jahre 1929 mit einem Fünfjahresplan begann, so wird man den Eindruck nicht los, dass man hier mit der Phase der totalen Herrschaft konfrontiert ist, „die von außen gesehen nur noch einem phantastischen Tollhausstück gleicht, in dem alle Regeln der Logik und Prinzipien der Wirtschaft auf den Kopf gestellt sind“ (854).

Entscheidend für das Verständnis der Nazis, denen offenbar gar nicht so viel daran lag, den Krieg zu gewinnen, sondern vielmehr ihre ideologischen Experimente durchführen wollten, ist, was sie selbst wie die Bolschewisten immer betont haben: „Dass sie das Land, in dem sie zur Macht gekommen sind, nur als eine Art zeitweiliges Hauptquartier für die internationale Bewegung auf dem Wege zur Welteroberung betrachten, dass sie Siege und Niederlagen in Jahrhunderten oder Jahrtausenden berechneten und dass das Interesse dieser auf Tausende von Jahren abzielenden Bewegung in jedem Fall über dem Interesse des Landes oder des Staates stehen müsse, den sie gerade zufällig besetzen“ (854).

Arendt zufolge war es für die `Bewegung´ wichtiger, „zu demonstrieren, wie man eine Rasse durch Ausmerzung anderer `Rassen´ herstellt, als einen Krieg mit begrenzten Zielen zu gewinnen. Das, was dem außenstehenden Beobachter wie ein `Stück aus dem Tollhaus´ vorkommt, ist nichts als die Konsequenz eines absoluten Primats der Bewegung nicht nur über den Staat, sondern auch über die Nation, das Volk und sogar die eigenen Machtpositionen“ (855).

So ist die totale Herrschaftsform also vor allem die Form, in der die totalitäre Bewegung sich des Staats- und Machtapparats bemächtigt, eine Form, die es ihr ermöglichen muss, als Bewegung unberührt von der Machtergreifung weiterzuexistieren, „wobei nur das Geheimnis der öffentlich etablierten `Geheimgesellschaft´ nun gleichsam nachträglich einen Platz findet und sich dort ansiedelt, wo immer das Machtzentrum der Herrschaft sich gerade befindet (…) Der Staatsapparat erscheint nun als Frontorganisation sympathisierender Verwaltungsbeamten, deren innenpolitische Funktion darin besteht, den bloß gleichgeschalteten Gruppen der Bevölkerung Vertrauen einzuflößen, und deren außenpolitische Rolle es ist, das Ausland zu betrügen und an der Nase herumzuführen. Und der Führer als Staatsoberhaupt und Führer der Bewegung vereinigt wiederum in seiner Person den Gipfel rücksichtsloser Radikalität und Vertrauen einflößender Mäßigung“ (857).

Totalitäre Machtpolitik ist also keine Machtpolitik im alten Sinne, auch nicht im Sinne einer noch nie dagewesenen Übertreibung und Radikalisierung des alten Strebens nach Macht nur um der Macht willen. Hinter totalitärer Machtpolitik wie hinter totalitärer Realpolitik liegen neue, in der Geschichte bisher unbekannte Vorstellungen von Realität und Macht überhaupt. „Auf diese Begriffsverschiebung kommt alles an, denn sie, und nicht bloße Brutalität, bestimmt die außerordentliche Schlagkraft wie die ungeheuren Verbrechen der totalen Herrschaft. Es handelt sich bei den totalitären Methoden … um die völlige Nichtbeachtung aller berechenbaren äußeren Konsequenzen, nicht um chauvinistische Gräueltaten, sondern um die Nichtachtung aller nationalen Interessen und die völlige Wurzellosigkeit derer, die sich der Bewegung als solcher verschrieben haben“ (864f).

Für Arendt ist vollkommen deutlich, dass das, „was man zu Unrecht oft als den `Idealismus´ der Bewegung beschrieben hat, nämlich der unerschütterliche Glaube an eine ideologisch-fiktive Welt, die es herzustellen gilt, die politischen Verhältnisse der Gegenwart tiefer und entscheidender erschüttert hat, als Machthunger oder Angriffslust es je hätten tun können“ (865).

"... dass sechzigtausend Mann wirklich eine Einheit sind" (Hitler)  
Für Hitler wiederum lag die eigentliche Größe der Bewegung darin, dass `sechzigtausend Mann äußerlich wirklich eine Einheit geworden waren, dass nicht nur die Ideen dieser Glieder (der Bewegung) uniform sind, sondern auch ihr physiognomischer Ausdruck, … dann weiß man, wie in der Bewegung hunderttausend Menschen ein einziger Typus geworden sind´.

„Nicht die Ruinen der deutschen Städte und nicht die Lahmlegung der Industrie“ überzeugten Hitler „von der bevorstehenden Niederlage; aber als er erfuhr, dass die SS nicht mehr zuverlässig sei, hielt er den Zeitpunkt für gekommen, sich das Leben zu nehmen“ (866).

Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)


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