Donnerstag, 11. September 2014

Norbert Hoerster und die Begründung von Gerechtigkeitsnormen

Norbert Hoerster (*1937)
In seinem Buch „Was ist eine gerechte Gesellschaft?“ erörtert Norbert Hoerster nicht nur die zentralen Themen staatlicher wie sozialer Gerechtigkeit - darunter die Frage nach individuellen Grundrechten, der Verteilung des Wohlstands, der Legitimität des Privateigentums und der Steuergerechtigkeit -, sondern er geht auch der Frage nach, wie sich Gerechtigkeitsnormen und –urteile begründen lassen.

Hoerster geht davon aus, dass eine gerechte Gesellschaft daran erkennbar ist, dass in ihr gerechte Normen gelten, die in der Regel zu gerechten Handlungen und zu einem gerechten Umgang der Bürger miteinander führen.

Weil natürlich nicht jede moralische Norm auch zugleich eine Gerechtigkeitsnorm ist, betrachtet Hoerster in seinem Buch nur zwei Kategorien von Normen, die eine klare Forderung nach Gerechtigkeit enthalten:

„1. Es handelt sich um fundamentale Forderungen, die für Leben und Wohlergehen aller oder jedenfalls zahlreicher Bürger von zentraler Bedeutung sind. Ich bezeichne diese Normen im Folgenden als Normen der `Grundgerechtigkeit.´

2. Es handelt sich um fundamentale Forderungen, die Wohlstand oder Lebensqualität einer Gruppe der Gesellschaft in Relation zum Wohlstand einer anderen Gruppe der Gesellschaft betreffen und die Herstellung einer gewissen Annäherung des Wohlstands beider Gruppen – möglicherweise bis zu seiner völligen Gleichheit – beinhalten. Ich bezeichne diese Normen im Folgenden als Normen der `Verteilungsgerechtigkeit´“ (16).


Grundgerechtigkeit - Garantie des Lebens und Wohlergehens aller

Eine Gesellschaft, in der diese Normen Geltung besitzen - Normen der „ausgleichenden Gerechtigkeit“ werden von Hoerster in diesem Buch bewusst nicht behandelt -, könnte demnach als gerechte Gesellschaft bezeichnet werden. Hinzu käme als weitere Bedingung das Vorhandensein der notwendigen rechtlichen Institutionen zur wirksamen Umsetzung der Gerechtigkeitsnormen.

Gerechtigkeitsnormen, so Hoerster, stellen Forderungen auf, „die sich in ihrem Wesen nach nicht bloß von einem Individuum an ein anderes Individuum, sondern aus der Mitte einer ganzen Gesellschaft an eine Vielzahl von Individuen richten“ (18).

Die Existenz solcher Normen ist für den einzelnen Bürger gleichwohl nicht ungebrochen positiv: Gerechtigkeitsnormen schränken die individuelle Freiheit erheblich ein und das Nicht-Befolgen dieser Normen ist stets mit der Androhung von teilweise drastischen Sanktionen verbunden.

Verteilungsgerechtigkeit: Wer bekommt wieviel von wem?

Wenn also Gerechtigkeitsnormen immer auch mit Pflichten und Nachteilen für den einzelnen Bürger verbunden sind, dann ergibt sich daraus Anspruch, dass diese Normen stets einer Begründung bedürfen.

Eine logisch denkbare Begründung wäre das Auffinden von Gerechtigkeitsnormen mithilfe der reinen Erkenntnis. Dies würde voraussetzen, dass die gesuchten Normen der Gerechtigkeit bereits objektiv existieren und „nur“ als Gegenstand unseres Erkenntnisvermögens „entdeckt“ zu werden bräuchten. 

Gegen diese Begründung wendet Hoerster ein, dass – realistisch betrachtet – diese Normen menschliche Erfindungen sind bzw. Instrumente zur  Erreichung bestimmter Ziele, die wiederum vom Menschen „erfunden“ bzw. festgelegt wurden. Es gibt also keine verborgene Liste solcher Normen, „die uns in einer objektiven Realität vorgegeben und als Gegenstand reiner Erkenntnis erfassbar sind“ (23).

Eine zweite Begründung von Gerechtigkeitsnormen betrifft ihre Ableitung allein aus empirischen Erkenntnissen und Erfahrungen. Hier gibt es jedoch die Gefahr des „naturalistischen Fehlschlusses“, dem zufolge es logisch nicht haltbar ist, aus einem Seinsurteil (einem Urteil, dass etwas in der Wirklichkeit der Fall ist) ein Sollensurteil (ein Urteil darüber, was gerechterweise der Fall sein soll) abzuleiten.

Als dritte Begründung führt Hoerster nun – im Anschluss an John Rawls – die „intersubjektive Zustimmung“ ein: „Unsere Gerechtigkeitsurteile sind unter der Voraussetzung begründet, dass es für unsere moralischen Einstellungen, auf denen sie beruhen, gute Gründe gibt. Und sie sind als Forderungen der Gerechtigkeit auch unseren Mitmenschen gegenüber begründet, wenn wir davon ausgehen können, dass es auch für unsere Mitmenschen gute Gründe gibt, diese Einstellungen zu teilen bzw. diesen Normen zuzustimmen“ (22).

Auf diese Weise lassen sich Gerechtigkeitsnormen als jene aufgeklärten Ziele und Interessen verstehen, von denen man annehmen kann, „dass sie jedenfalls die meisten Menschen in einem urteilsfähigen und über alle relevanten Umstände informierten Zustand haben“ (ebd.).

Intersubjektive Zustimmung

Dies gilt selbstverständlich für die beiden o.g. Kategorien von Gerechtigkeitsnormen, in besonderem Maße aber für die Normen der Verteilungsgerechtigkeit. Hier geht es ja gerade darum, die unterschiedlichen Interessen von Individuen und Gruppen auszugleichen. Statt bei der Lösung dieses Problems auf irgendwelche absoluten Gerechtigkeitsprinzipien zu rekurrieren, kommt es vielmehr darauf an, herauszufinden, welche der möglichen Lösungen im jeweiligen Fall für das betroffene Individuum oder die betroffene Gruppe fairerweise zumutbar sind, indem wir uns beispielsweise dabei in die Lage der Betroffenen hineinversetzen.

Eine Begründung von Gerechtigkeitsnormen muss also in einer Kombination von begründeten moralischen Einstellungen mit zusätzlichen empirischen Annahmen bestehen. Ob und wieweit auf dieser Grundlage ein intersubjektiver Konsens über die anstehenden Fragen der Gerechtigkeit erreichbar ist, muss für jede einzelne dieser Fragen gesondert untersucht werden.

In jedem Fall müssen wir stets mit der Möglichkeit rechnen, dass „zumindest in manchen Fragen der Gerechtigkeit eine wirklich allgemeine, bzw. weitestgehende Zustimmung nicht erreichbar sein wird" (23).

Die Hoffnung aber bleibt, dass die Mehrzahl der Menschen „ein Interesse im Sinne eines rationalen Wunsches“ danach habt, dass Rechte und Güter untereinander in bestimmter, d.h. gerechter Weise verteilt werden.

Zitate aus: Norbert Hoerster: Was ist eine gerechte Gesellschaft? Eine philosophische Grundlegung. München 2013 (C.H. Beck)


2 Kommentare:

  1. Vielen Dank, lieber Blogger, für diese Rezension. Interessant, wie alles hier.

    Man könnte jetzt allerdings fragen, ob diese Rezension das Buch eher empfiehlt ;) oder von der Lektüre abschreckt. Ich tippe eher auf Abschrecken ;(

    Beispiel: Hoerster geht davon aus, "dass eine gerechte Gesellschaft daran erkennbar ist, dass in ihr gerechte Normen gelten, die in der Regel zu gerechten Handlungen und zu einem gerechten Umgang der Bürger miteinander führen."

    Tschuldigung, aber das ist für jeden nur mittelmäßig intelligenten Menschen schon eine arge Zumutung. Es handelt sich um reines Zirkelschlagen. Klar, man erkennt ein gewisses Etwas daran, dass dieses gewisse Etwas einem begegnet und diesem gewissen Etwas wiederum das gewisse Etwas wesentlich ist. Was sagt mir das über das gewisse Etwas? Nichts. Außerdem: Die Normen können nicht ihrerseits gerecht sein, sondern nur rechtlich, das ist ein deutlicher Unterschied, den Hoerster aber offenbar verschwurbelt. Dazu mehr unten.

    Oder z.B.: „1. Es (also "Normen als Normen der Gerechtigkeit") handelt sich um fundamentale Forderungen, die für Leben und Wohlergehen aller oder jedenfalls zahlreicher Bürger von zentraler Bedeutung sind." Auch hier wird wieder deutlich, wie das zu bewertende Objekt und der Maßstab dafür durcheinander kommen.

    Es müsste nämlich zunächst mal geklärt werden, WER nach WELCHEN Kriterien "fundamentale" Forderungen von nicht so fundamentalen scheidet. Gehört mein schneesicherer Winterurlaub eigentlich zu dem in das Gerechtigkeitskalkül einzubeziehenden Wohlergehen? Wenn nein, warum nicht? Woher weiß ich, ob ich zu den zahlreichen oder weniger zahlreichen gehöre? Wie viele aus einer Sozietät sind eigentlich zahlreich? 90 %, 80 %, 70 % ? oder wie oder was?

    Man kann das zu Petitessen erklären, zu denen sich ein Riesenphilosoph in seinem Grand Design nicht zu äußern braucht. Indessen wird die ganze Veranstaltung deutlich verfehlt, wenn solche "Details" in den Wolken bleiben. Deren Ausarbeitung, also das kasuistische Durchdeklinieren, ist es gerade, worauf es bei der RECHTLICHKEIT ankommt.

    Jedenfalls ist es so: Gerechtigkeit muss sich an gegebenen Statuten messen, die mehr sein müssen als Wolken im Nebel. Diese Statute ihrerseits sind nicht "gerecht", sondern DAS RECHT. Hoerster bindet DAS RECHT offenbar wiederum an eine Gerechtigkeitsprüfung, konstruiert also eine Metaebene, so etwas wie das gerechte Recht. Traditionell ist das: Das Naturrecht. Daraus ergibt sich aber ein nicht unwesentliches Problem: Wenn schon Meta, warum nicht Metameta oder Metametameta. Jeder kann lässig mit dem "Naturrecht" nicht zufrieden sein und ein noch natürlicheres Naturrecht fordern.

    Ergo: Man muss zwischen der Konstituierung eines Rechts (logischerweise müssen dabei nicht-rechtliche Maßstäbe leitend sein, denn die rechtlichen Maßstäbe hat man erst, nachdem das Recht schon gesetzt ist) und der Gerechtigkeit (= ein Einzelfall ist rechtskonform) oder Ungerechtigkeit (= ein Einzelfall ist nicht rechtskonform) unterscheiden. Die Konstituierung von Recht kann nicht gerecht sein - das wäre selbstreferentiell. Es gibt keine Gerechtigkeit prioritär vor dem Recht, sondern erst danach, somit auch keine Gerechtigkeit "ganz allgemein".


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  2. Lieber Herr Siebert,

    zugegeben: Der von Ihnen anfangs zitierte Satz klingt in der Tat banal – die Variante mit dem „gewissen Etwas“ hat mir daher auch gefallen. Gleichwohl möchte ich den Satz verteidigen, weil in ihm die keineswegs selbstverständliche Idee vertreten wird, dass eine gerechte Gesellschaft eben einzig und allein auf Normen (Gesetzen, Regeln) beruht, die – natürlich – gerecht sein müssen. Dies aber ist ja nicht unumstritten, denn eine gerechte Gesellschaft wäre für einen religiösen Menschen auch auf der Grundlage offenbarter göttlicher Gebote denkbar, die sich nicht einer Gerechtigkeitsüberprüfung unterziehen müssten – und die dann auch nicht notwendig zu gerechten Handlungen führen. Es ist diese Verknüpfung von „Norm“ und „gerechter Gesellschaft“, die ich jeder anderen Verknüpfung („Empirie – Gerechtigkeit“ oder „Offenbarung – Gerechtigkeit“) vorziehen würde.

    Die fundamentalen Forderungen - für Hoerster die Normen der Grund- und Verteilungsgerechtigkeit – werden dann auch im weiteren Verlauf seines Buches detailliert beschrieben (darüber spreche ich dann auch in einem kommenden Blogartikel) - aber ich muss Sie enttäuschen: ein "schneesicherer Winterurlaub" gehört bedauerlicherweise nicht zum allgemeinen Wohlergehen ...

    Wenn Sie sagen, dass es keine Gerechtigkeit prioritär vor dem Recht gib, sondern erst danach, somit auch keine Gerechtigkeit "ganz allgemein", dann verkennt diese Aussage gerade das Wechselverhältnis von Recht und Gerechtigkeit, bzw. Politik und Moral.

    „Recht“ meint ja zum einen das Rechte, Richtige (lat. iustum), aber eben sowohl im moralischen als im juridischen Sinn. Zum anderen meint es die Kodifizierung dieses Rechten in Form von Rechtsgrundsätzen, richterlichen Entscheidungen und besonders in Form von Gesetzen (lat. ius). Für den Begriff des Rechts ist der Begriff des Gerechten oder der Gerechtigkeit also konstitutiv – Gerechtigkeit kann also auch vor dem Recht kommen.

    Der Begriff des Rechts ist zunächst ohne den der Gerechtigkeit in sich nicht konsistent. Gerechtigkeit ihrerseits impliziert die Vorstellung von rechtlich geordneten Verhältnissen. Weitere Elemente des Rechtsbegriffes sind das der Gleichheit im Sinne von Gleichbehandlung und das der universellen Geltung. Ein Recht, das nicht für alle dasselbe und dem nicht jeder gleichermaßen unterworfen ist, würden wir als ungerecht empfinden.

    Weiter existiert eine prinzipielle Affinität von Recht und Staat. Der Staat definiert sich als eine Gemeinschaft der Bürger, aufgrund des gleichen Bürgerstatus als Gemeinschaft von Gleichen, die allerdings in sozialer Hinsicht ungleich sind. Die staatliche Ebene ist daher die Ebene, auf der ein gleiches Recht für alle formuliert und beschlossen werden kann.

    Der Staat ist als Inhaber des Gewaltmonopols weiter die einzige Instanz im Gemeinwesen, die dem Recht zu universeller Durchsetzung verhelfen kann. Der Staat ist somit zur Herstellung und Bewahrung rechtlicher Verhältnisse berufen. Er hat, kurz gesagt, dafür zu sorgen, dass jedem sein Recht zuteil werden kann. Das wäre dann eine gerechte Gesellschaft - Gerechtigkeit kann also auch – wie von Ihnen vertreten - nach dem Recht kommen …

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