Mittwoch, 16. Juli 2014

Sommerlektüre: Wilhelm von Humboldt und die Grenzen des Staates - Teil 3


Die Sorgfalt des Staates für den positiven Wohlstand

Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835)
In seiner 1792 verfassten Abhandlung „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ verteidigt Humboldt das Anliegen, dass jeder Einzelne ein freies und selbstbestimmtes Leben führen kann, also gegen den umfassenden Ordnungsanspruch des Staates.

Humboldt geht dabei von den Prämissen aus, dass neben der Freiheit des Individuums „die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes [erfordert], obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, - Mannigfaltigkeit der Situationen“, denn „auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus."

So kommt Humboldt zu dem Schluss, „dass die wahre Vernunft dem Menschen keinen anderen Zustand als einen solchen wünschen kann, in welchem jeder Einzelne die ungebundenste Freiheit geniest“, um sich „aus sich selbst, in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln.“ In diesem Zustand dürfe auch die „physische Natur [des Menschen] keine andere Gestalt von Menschenhänden“ empfangen, als die, die jeder Einzelne sich selbst gibt, „nach dem Maß seiner Bedürfnisse und seiner Neigungen, allein beschränkt durch die Grenzen seiner Kraft und des Rechts.“

Im Hinblick auf den möglichen Zweck des Staates nennt Humboldt zwei gegensätzliche Antworten: Zum einen kann der Zweck des Staates in der notwendigen Pflicht bestehen, „Übel zu verhindern“ und so für die Sicherheit der Bürger zu sorgen und zum anderen kann der Staat sich versucht fühlen, das „Glück zu befördern“, also alle übrigen Zwecke zu verfolgen, die „unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint“ werden können.

Baggern für den Wohlstand

(Foto: picture-alliance / Eibner-Presse/picture alliance)
Unter positivem Wohlstand versteht Humboldt nun „den Unterhalt der Einwohner, teils geradezu durch Armenanstalten, teils mittelbar durch Beförderung des Ackerbaues, der Industrie und des Handels, von allen Finanz- und Münzoperationen, Ein- und Ausfuhr-Verboten u.s.f. (in so fern sie diesen Zweck haben) endlich allen Veranstaltungen zur Verhütung oder Herstellung von Beschädigungen durch die Natur, kurz von jeder Einrichtung des Staats, welche das physische Wohl der Nation zu erhalten, oder zu befördern die Absicht hat.“

Alle diese Einrichtungen nun, behauptet Humboldt mit überraschender Deutlichkeit, „haben nachteilige Folgen, und sind einer wahren, von den höchsten, aber immer menschlichen Gesichtspunkten ausgehenden Politik unangemessen.

Humboldt geht davon aus, dass in jeder dieser Maßnahmen „der Geist der Regierung herrscht … und wie weise und heilsam dieser Geist auch sei, so bringt er Einförmigkeit und eine fremde Handlungsweise … hervor.“

Einförmigkeit aber – darauf hatte schon Aristoteles hingewiesen – bedeutet das Ende der staatlichen Gemeinschaft: „Gerade die aus der Vereinigung Mehrerer entstehende Mannigfaltigkeit ist das höchste Gut, welches die Gesellschaft gibt, und diese Mannigfaltigkeit geht gewiss immer mit jedem Grade der Einmischung des Staats verloren.“

Dies führe dazu, dass eigentlich keine freien und selbstbestimmten Bürger „mit sich in Gemeinschaft leben, sondern einzelne Untertanen, welche mit dem Staat, d.h. dem Geiste, welcher in seiner Regierung herrscht, in Verhältnis kommen, und zwar in ein Verhältnis, in welchem schon die überlegene Macht des Staats das freie Spiel der Kräfte hemmt.“

Ruhe und Ordnung - erste Bürgerpflicht?
Es ist die ewige Überzeugung des klassischen Liberalismus, wenn Humboldt schreibt, dass „je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte.“ Natürlich sei genau das die eigentliche Absicht der Herrschenden: „Sie wollen Wohlstand und Ruhe. Beide aber erhält man immer dann leicht, wenn das Einzelne wenig miteinander streitet.“ Dennoch ist das, „was der Mensch beabsichtigt und beabsichtigen muss, … etwas [ganz] anders, es ist Mannigfaltigkeit und Tätigkeit. Nur dies gibt vielseitige und kraftvolle Charaktere.“

Wer nun das Gegenteil davon verteidige, „den hat man, und nicht mit Unrecht, in Verdacht, dass er die Menschheit missachtet, und aus Menschen Maschinen machen will.“

„Alles im Menschen ist Organisation. Was in ihm gedeihen soll, muss in ihm gesät werden.“ Diese überaus pädagogische Weisheit führt Humboldt zu einem weiteren Argumentationsstrang gegen die Absicht des Staates, den positiven Wohlstand – also das Glück – der Bürger zu verwirklichen.

Humboldt - und hier zeigt sich seine humanistische Herkunft – geht davon aus, dass der Verstand des Menschen wie jede andere seiner Kräfte auch, „nur durch eigene Tätigkeit und eigene Erfindungsgabe … gebildet“ werde. „Anordnungen des Staates aber führen immer - mehr oder minder - Zwang mit sich, und selbst, wenn dies der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hilfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken.“

So verfalle der Staat allzu gern darauf, „die Bürger [zu] belehren“, indem er „das aufstellt, was er für das Beste erklärt, gleichsam das Resultat seiner Untersuchungen, und entweder direkt durch ein Gesetz, oder indirekt durch irgendeine die Bürger bindende Einrichtung befiehlt.“

Dagegen verteidigt Humboldt die Strategie, den Menschen „gleichsam alle mögliche Auflösungen des Problems vorzulegen, und den Menschen nur darauf vorzubereiten, die schicklichste selbst zu wählen, oder noch besser, diese Auflösung selbst nur aus der gehörigen Darstellung aller Hindernisse zu erfinden.“

Der bessere Weg: Die Menschen darauf vorbereiten,
selbst wählen zu können!

Dies aber könne der Staat „bei erwachsenen Bürgern nur auf eine negative Weise“, also durch die Schaffung von Sicherheit und Freiheit erreichen, „die zugleich Hindernisse entstehen lässt, und zu ihrer Hinwegräumung Stärke und Geschicklichkeit gibt.“

Wolle der Staat aber auf eine „positive Weise“ für Wohlstand sorgen, dann leide durch „eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staates die Energie des Handelns überhaupt, und der moralische Charakter“: „Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und glaubt genug zu tun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt.“

Das Glück aber würde man mit dieser Methode jedenfalls nicht finden, denn das Glück, „zu welchem der Mensch bestimmt ist, ist auch kein anderes, als welches seine Kraft ihm verschafft; und diese Lagen gerade sind es, welche den Verstand schärfen, und den Charakter bilden.“

So wird das Postulat der Freiheit wieder zum Dreh- und Angelpunkt des Verständnis vom Staat und vom Menschen bei Humboldt: „Allein freilich ist die Freiheit notwendige Bedingung, ohne welche selbst das seelenvollste Geschäft keine heilsamen Wirkungen dieser Art hervor zu bringen vermag. Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit.“

Die Gefahr des positiven Wohlstands

So verhindere der Staat durch sein Eingreifen „die Entwicklung der Individualität und Eigentümlichkeit des Menschen in dem moralischen und überhaupt praktischen Leben des Menschen“, weil letztlich jede  Einschränkung mit der Ausbildung der freien und natürlichen Kräfte des Menschen kollidiere.

Ein letztes Argument gegen die positive Wohlfahrt des Staates betrifft die Auswirkungen auf den Staatsapparat selbst: Der Anspruch des Staates, mit direkten Mitteln das Glück der Menschen zu befördern, führt nicht nur dazu, „dass ein solcher Staat größerer Einkünfte bedarf, sondern er erfordert auch künstlichere Anstalten zur Erhaltung der eigentlichen politischen Sicherheit, die Ziele hängen weniger von selbst fest zusammen, die Sorgfalt muss bei weitem tätiger sein.“

Auf diese Weise erhalte die staatliche Verwaltung jedoch „eine Verflechtung, welche … eine unglaubliche Menge detaillierter Einrichtungen bedarf und eben so viele Personen beschäftigt.“ Dadurch entstehe aber ein Erwerbszweig, die „Besorgung von Staatsgeschäften, und dieser macht die Diener des Staats so viel mehr von dem regierenden Teile des Staats, der sie besoldet, als eigentlich von der Nation abhängig.“

Verwaltung von Glück?
Das Ergebnis dieser Entwicklung ist für Humboldt offensichtlich: „Die Menschen … werden um der Sachen, die Kräfte um der Resultate willen vernachlässigt. Ein Staat gleicht nach diesem System mehr einer aufgehäuften Menge von leblosen und lebendigen Werkzeugen der Wirksamkeit und des Genusses, als einer Menge tätiger und genießender Kräfte. Bei der Vernachlässigung der Selbsttätigkeit der handelnden Wesen scheint nur auf Glückseligkeit und Genuss gearbeitet zu sein.“

Damit entferne sich der Einzelne gleichwohl immer weiter von seiner Würde, denn der Mensch „genießt am meisten in den Momenten, in welchen er sich in dem höchsten Grade seiner Kraft und seiner Einheit fühlt.“

Es sei wohl kein Zufall, dass „in den meisten Staaten von Jahrzehnt zu Jahrzehnt das Personale der Staatsdiener [zunimmt], und der Umfang der Registraturen, und die Freiheit der Untertanen ab.“

So kommt Humboldt abschließend zu einem eindeutigen Urteil: „Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger, und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzwecke beschränke er ihre Freiheit.“
  
Zitate aus: Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Volltext im Deutschen Textarchiv, hier: Kapitel II und III.

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