Donnerstag, 23. Mai 2013

Friedrich Nietzsche und das Gefühl der persönlichen Verpflichtung

Wie so häufig bei selbsternannten Propheten zu beobachten ist, versucht auch David Graeber in seinem Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“, alle vergangenen und gegenwärtigen Prozesse der Weltgeschichte auf einige wenige Grundprinzipien zu reduzieren.

So seien Graeber zufolge Schuld, Schulden und Schuldverhältnisse letztlich die treibende Kraft in der Geschichte, die nicht nur für die Genese von Gewalt- und Machtstrukturen politischer und religiöser Art verantwortlich sind, sondern die letzte Ursache gleichermaßen für Institutionen, Kolonisationen und Revolutionen sind. Das Problem ist, das solch allzu plausibler Blick der Vielschichtigkeit der Wirklichkeit nicht gerecht werden kann.

Zudem ist ein roter Faden, der den Leser durch die Lektüre des Buches führt, nicht erkennbar, weil Graeber sich oft in - zugegeben vielen und teilweise skurrilen - Details verzettelt. Sein Stil ist langatmig und das Lesen eher anstrengend und ermüdend.

Friedrich Nietzsche (1844 - 1900)
Gleichwohl sind einige Hinweise Graebers durchaus von Interesse, so beispielsweise die überraschende Zeugenschaft Nietzsches im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte des Geldes, die Nietzsche gewissermaßen en passent in seiner „Genealogie der Moral“ (1887) beschreibt.

So habe, Nietzsche zufolge, das Gefühl der Schuld und der persönlichen Verpflichtung, „seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältnis, das es gibt, gehabt, in dem Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier maß sich zuerst Person an Person.“

So habe man keinen noch so niederen Grad von Zivilisation aufgefunden, in dem nicht schon diese Verhältnisse bemerkbar würden: „Preise machen, Werte abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem solchen Maße das allererste Denken des Menschen präokkupiert, dass es in einem gewissen Sinne das Denken ist.“

Nietzsche sieht hier den Ursprung menschlichen Scharfsinn und ebenfalls den ersten Ansatz menschlichen Stolzes, das sein Gefühl des Vorrangs gegenüber anderen Lebewesen begründete: „Vielleicht drückt noch unser Wort »Mensch« (manas) gerade etwas von diesem Selbstgefühl aus: der Mensch bezeichnete sich als das Wesen, welches Werte misst, wertet und misst, als das `abschätzende Tier an sich´.“

Für Nietzsche sind Kauf und Verkauf einschließlich „ihrem psychologischen Zubehör“ eindeutig älter als selbst die Anfänge der gesellschaftlichen Zusammenhänge und Verbände. Vielmehr habe sich „aus der rudimentärsten Form des Personen-Rechts … das keimende Gefühl von Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten und anfänglichsten Gemeinschafts-Komplexe (in deren Verhältnis zu ähnlichen Komplexen) übertragen, zugleich mit der Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen.“

Aber Nietzsche ging noch weiter, denn er war überzeugt, dass auch die menschliche Moral im Zusammenhang des Verhältnisses Gläubiger-Schuldner entstanden sei. Dazu wies er auf die doppelte Bedeutung des Wortes Schuld hin, denn „Schulden haben“ meint ebenso „schuldig sein“ und in beiden Fällen ist „Strafe“ bzw. „Sühne“ eine notwendige Konsequenz.

"Schuldknechtschaft" in einer Bilderhandschrift des Sachsenspiegels

Als die Menschen schließlich begannen, Gemeinschaften zu bilden, so Nietzsche weiter, begannen sie wie selbstverständlich, das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft in den Begriffen „Schuld“ und „Schulden“ zu formulieren. Dabei folgt Nietzsche mehr oder weniger der sogenannten Theorie von den Urschulden:

„Innerhalb der ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft – wir reden von Urzeiten – erkennt jedes Mal die lebende Generation gegen die frühere und in Sonderheit gegen die früheste, geschlecht-begründende eine juristische Verpflichtung an (und keineswegs eine bloße Gefühls-Verbindlichkeit. … Hier herrscht die Überzeugung, dass das Geschlecht durchaus nur durch die Opfer und Leistungen der Vorfahren besteht, – und dass man ihnen diese durch Opfer und Leistungen zurückzuzahlen hat: man erkennt somit eine Schuld an, die dadurch noch beständig anwächst, dass diese Ahnen in ihrer Fortexistenz als mächtige Geister nicht aufhören, dem Geschlechte neue Vorteile und Vorschüsse seitens ihrer Kraft zu gewähren. Umsonst etwa? Aber es gibt kein `Umsonst´ für jene rohen und `seelenarmen´ Zeitalter. Was kann man ihnen zurückgeben? Opfer (anfänglich zur Nahrung, im gröblichsten Verstande), Feste, Kapellen, Ehrenbezeigungen, vor Allem Gehorsam – denn alle Bräuche sind, als Werke der Vorfahren, auch deren Satzungen und Befehle –: gibt man ihnen je genug? Dieser Verdacht bleibt übrig und wächst.“

Die Argumentation ist klar und einfach erkennbar: Die Gemeinschaft garantiert dem Menschen Frieden und Sicherheit. Deshalb steht jeder Einzelne in ihrer Schuld. Um `seine Schuld gegenüber der Gesellschaft zu begleichen´, muss man ein `Opfer erbringen´, das beispielsweise darin besteht, den Normen und Gesetzen der Gemeinschaft zu gehorchen.

Das Problem aber sei, dass das Gefühl bleibt, wir könnten den Vorfahren oder der jetzigen Gemeinschaft niemals die Schuld zurückzahlen und kein noch so großes Opfer in der Lage wäre, uns jemals zu erlösen, so dass schließlich „mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Buße, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der `ewigen Strafe´) konzipert ist.

Das Problem der Unabzahlbarkeit der Schuld führt zur Notwendigkeit der Erlösung ...

An dieser Stelle zieht Nietzsche nun den Bogen zu „jenem Geniestreich des Christentums“, nach dem „Gott selbst sich für die Schuld des Menschen opfernd, Gott selbst sich an sich selbst bezahlt machend, Gott als der Einzige, der vom Menschen ablösen kann, was für den Menschen selbst unablösbar geworden ist – der Gläubiger sich für seinen Schuldner opfernd, aus Liebe (sollte man's glauben? –), aus Liebe zu seinem Schuldner!…“

Wie schon anfangs gesagt: Eigentlich geht es Nietzsche nicht so sehr um die Entstehungsgeschichte des Geldes, um Kredit und Schulden, sondern sein Ziel ist vielmehr die Entstehung der Moral und hier insbesondere den Begriff der `Erlösung´ zu begreifen, wie also das nagende Gefühl von Schuld umschlägt in eine Sehnsucht nach Erlösung.

Schließlich habe `Erlösung´ nichts mehr mit Rückkauf  zu tun, sondern eher mit der vollständigen Vernichtung der Buchführung.

Zitate aus: Friedrich Wilhelm Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, online im Projekt Gutenberg

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