Samstag, 31. Dezember 2011

Aristoteles und die Eudaimonia


Brueghels berühmtes Bild „Das Schlaraffenland“ bezieht sich auf das im 16. Jahrhundert entstandene Märchen „Das Schlaraffenland“ - wörtlich „Das Land der faulen Affen“ -, ein fiktiver Ort, in dem alles im Überfluss vorhanden ist: 

Das Schlaraffenland - Pieter Brueghel d.Ä. (1525 - 1569) 

„Da sind die Häuser gedeckt mit Eierfladen, und Türen und Wände sind von Lebkuchen, und die Balken von Schweinebraten. Um jedes Haus steht ein Zaun, der ist von Bratwürsten geflochten. Alle Brunnen sind voll süßer Weine, die rinnen einem nur so in das Maul hinein.“

In den Flüssen fließen Milch, Honig oder Wein statt Wasser. Alle Tiere sind bereits vorgegart und bieten sich mundfertig den Hungrigen an: 

„Die Fische schwimmen in dem Schlaraffenlande oben auf dem Wasser, sind auch schon gebacken oder gesotten, und wenn einer ganz faul ist, der braucht nur rufen – so kommen die Fische auch heraus aufs Land spaziert und hüpfen dem guten Schlaraffen in die Hand. Die Spanferkel geraten dort alle Jahr überaus trefflich; sie laufen gebraten umher und jedes trägt ein Transchiermesser im Rücken, damit, wer da will, sich ein frisches saftiges Stück abschneiden kann.“

Genuss gilt als die größte Tugend der Schlaraffen, harte Arbeit und Fleiß werden dagegen als Sünde betrachtet. Das Schlaraffenland ist das Paradies des Nichtstuns.
Auch für die Schlafsäcke und Schlafpelze, die bei uns von ihrer Faulheit arm werden und betteln gehen müssen, ist jenes Land vortrefflich. Jede Stunde Schlafens bringt dort einen Gulden ein, und jedes Mal Gähnen einen Doppeltaler.

Wer gern arbeitet, Gutes tut und Böses lässt, der wird von jedermann verachtet, und er wird Schlaraffenlandes verwiesen. Wer nichts kann, als schlafen, essen, trinken, tanzen und spielen, der wird zum Grafen ernannt. Dem aber, welchen das allgemeine Stimmrecht als den faulsten und zu allem Guten untauglichsten erkannt, der wird König über das ganze Land, und hat ein großes Einkommen.“

Das Märchen und das Bild Brueghels verweisen auf die Frage, was einen Menschen glücklich macht. In der antiken griechischen Philosophie wurden dazu Ansätze entwickelt, die auch heute noch von Bedeutung sind.

Für den Hedonismus erreicht man das Glück durch die Befriedigung der Bedürfnisse. Der Vertreter des positiven Hedonismus, Aristippos von Kyrene (435 - 355 v. Chr.), fordert daher eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ohne Rücksicht auf einschränkende Vorschriften. Der negative Hedonismus in der Tradition Epikurs (341 - 270 v. Chr.) dagegen sieht Glück eher in der Selbstgenügsamkeit (gr. αὐτάρκεια) und in der vernunftgeleiteten Einschränkung der Bedürfnisse, die letztlich ein höheres Maß an Befriedigung verspricht – ähnlich dem modernen „Weniger ist mehr“.
 
Seine klassische Ausprägung erreicht die antike Glücksethik jedoch in Aristoteles´
Eudaimonismus. Ihm zufolge ist die Glückseligkeit dann erreicht, wenn sich drei Glücksformen bei einem Menschen in einem harmonischen Verhältnis befinden (Nikomachische Ethik, I.3.). 
 
Die erste Form ist ein Leben der Lust und der Vergnügungen, die zweite ein Leben als freier und verantwortungsbewusster Bürger. Diese beiden Formen lassen sich auch als vita activa beschreiben. 
 
Die dritte Form des Glücks besteht in der Lebensform eines Forschers und Philosophen, ein Leben, das ganz der geistigen Schau (gr. Θεωρείν = „das Göttliche betrachten“) und der Erkenntnis, also der vita contemplativa gewidmet ist.
 
Mit diesen Glücksformen verbunden ist im aristotelischen Eudaimonismus
der Begriff der „Mitte“, denn das Bemühen um das rechte Maß bei allen unseren Handlungen, Emotionen und Begierden führt direkt zu einem tugendhaften Leben. 

So ist beispielsweise die Tugend der Tapferkeit eine Mitte zwischen den Lastern Tollkühnheit und Feigheit. Die Mitte findet sich also zwischen den Extremen des Zuviel und Zuwenig. Sie ist jedoch keine mathematisch berechenbare Größe, sondern wird situationsanhängig als Beschreibungsmodus verwendet, als „ein Verhalten der Entscheidung, begründet in der Mitte im Bezug auf uns, einer Mitte, die durch Vernunft bestimmt wird und danach, wie der Kluge bestimmen würde“ (Nikomachische Ethik, II.6.).

Im Schlaraffenland ließe sich nach Aristoteles die Glückseligkeit jedenfalls nicht erreichen, bleibt doch das Leben auf die Glücksform der Lust und des Vergnügens beschränkt. Aber wahrscheinlich ließe sich Aristoteles allein schon von den Einreisebedingungen ins „Land der faulen Affen“ abschrecken: „Um das ganze Land herum ist nämlich eine berghohe Mauer von Reisbrei. Wer hinein oder heraus will, muss sich da erst durchfressen.“

Zitate aus: Ludwig Bechstein: Sämtliche Märchen, Düsseldorf 2011 (Artemis & Winkler), im Projekt Gutenberg unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/4510/22 -- Aristoteles: Ethik, München 1991 (dtv) -- Epikur: Brief an Menoikeus, in: Epikur: Von der Überwindung der Angst, München 1983 (dtv)

Weitere Literatur: Hans Sachs: Das Schlaraffenland, im Projekt Gutenberg unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/5222/3 -- Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Bd. 1, Bücher I-VI, Hamburg 2008 (Meiner) -- Jörg Peters und Bernd Rolf: Ethik im Bild, Bamberg 2003 (C.C: Buchner)


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